Bernhard Peter
Architektur der Jain-Tempel in Nordwest-Indien

Das Wesen eines Jain-Tempels
Was wird im Jain-Tempel verehrt? Zuerst sei angemerkt, was nicht verehrt wird: Es wird keine Gottheit verehrt. Es wird hier nicht um Lösung von Problemen nachgesucht. Man erbittet auch nicht die Hilfe oder das sonstige Eingreifen eines übernatürlichen Wesens. Man erwartet nicht, Heil gespendet zu bekommen. Götter, Verehrung, Tempelwesen trifft nicht den Kern der Lehre. Sondern: Man gedenkt der Jinas, der Tirthankaras, der ideellen Vorbilder. Man reflektiert deren Leben, deren Taten, deren Lehren, um persönlich besser auf seinem Pfad zur Erlösung vorankommen zu können, um Motivation für das eigene rechte Tun zu erhalten. Ein Eingreifen der von der Welt entrückten Tirthankaras oder Jinas in weltliches Geschehen erhofft oder gar erwartet hier niemand. Jain-Tempel sind Stätten, in denen der Gläubige an seiner Seele arbeitet, nicht Orte der Verehrung von Göttern oder Götterbildern. Denn die Jain verehren hier keine Hochgötter, um von ihnen Seelenheil zu erhalten oder andere Wünsche erfüllt zu bekommen, auch sind die Tempel nicht Wohnstätten von irgendwelchen Göttern. Der Gläubige klärt in diesen wundervollen Bauwerken seinen Geist, er taucht ein in eine Welt des Idealen, er läßt eine "heile Welt" auf sich einwirken. Deshalb gehören die Jain-Tempel in ihrem Innern zu den aufwendigsten Bauten, deshalb sind sie oft in reinem, klarem Marmorweiß gehalten und zeigen in den bildlichen Darstellungen himmlische Wesen und Glückliche. Hier kann der Gläubige durch Meditation seine Seele reinigen, hier kann er sich in Beziehung zum Idealen setzen, hier kann er vor den Bildern der Tirthankaras über deren Wesen, über die höchste Daseinsform, meditieren und die Botschaft seiner Vorbilder auf sich einwirken lassen.

Gibt es eine typische Jain-Architektur?
Grundsätzlich wird postuliert, daß die Jain-Architektur keine grundlegend eigenständigen Bautypen und keine neue, eigenständige Formensprache der Architektur hervorgebracht hat. Jain-Tempel haben eine große Ähnlichkeit mit den Kultgebäuden der Hindus oder der Buddhisten. Im wesentlichen folgen Konzeption, Gestaltung und Formensprache dem zeitlich und regional gültigen Mainstream, wie z. B. bei den frühen in den Felsen geschlagenen Höhlentempeln oder später in Khajuraho sichtbar. Im Detail gibt es aber sehr wohl eigene Züge der Jain-Tempel-Anlagen, die strukturell den besonderen Anforderungen der Jain-Religion gerecht werden.

Bastis:
Jain-Tempel in Südindien, in den Architekturformen dravidischen Vorbildern folgend, entwickelt in den Städten der Calukya-Dynastie im 5. und 6. Jh. n. Chr., in denen die Stelle des hinduistischen Kultbildes von einer der 24 Tirthankaras eingenommen wird. Bastis sind Tempel im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie bestehen aus einem Hof mit Umgang, in dessen Mitte eine Cella mit dem Kultbild steht. Typisch südindisches Merkmal sind die den äußeren Umfassungsmauern vorgesetzten Pilaster. Über dem Vimana erhebt sich ein kleiner kuppelförmiger Aufbau. Bei den Bastis stehen mehrere dekorierte Säulen (Stambhas), aber seltenst mit Inschriften oder Symbolen versehen, sondern als rein dekoratives Element dienend. Beispiele: Um Mangalore, Sravana Belgola ("der weiße See des Jain-Mönches", wichtiges Pilgerzentrum in Südindien zwischen Hassan und Mysore).

Bettus:
Jain-Verehrungsstätten in Südindien, bestehend aus einem von einem gedeckten Umgang umgebenen, nach oben offenen Hofe, in denen überlebensgroße Abbilder nackter Asketen stehen, entsprechend der Digambara-Jain-Tradition. Die Abbilder sind hieratisch starr und kolossal, ausdruckslos, emotionslos, abgehoben, entsprechend der Tatsache, daß sie nach Erreichen der Erleuchtung von der Welt entrückt sind. Entscheidend für diesen Bautyp ist, daß die Skulptur frei steht. Beispiele: Der Gommateshvara von Sravana Belgola.

Wo werden Jain-Tempel errichtet?
Orte der Jain-Tempel: Jain-Tempel repräsentieren den Ort mythologischer Ereignisse im Leben der Jinas, der großen Vorbilder. Sie werden deshalb bevorzugt dort gebaut, wo ein Jina (oder Tirthankara) geboren wurde, ins Nirvana einging oder wo er Erleuchtung erlangte.

Tempelberge Nordwestindiens:
Typisch für die Jain-Architektur insbesondere im Nordwesten Indiens ist die Bekrönung heiliger Berge mit Tempelstädten (Konzept der „Berge der Unsterblichkeit“). Heilig sind die betreffenden Berge, weil sie Orte mythischen Geschehens waren. Das sind aber keine richtigen Städte mit städtischer Infrastruktur, sondern Ansammlungen einer Vielzahl von Tempeln, die dadurch stadtähnlich wirken, daß sie insgesamt von einer wehrhaften Stadtmauer umgeben sind. Dabei folgen die Anordnung der Tempel und ihr Bezug zueinander aber keinem Gesamtplan, sie wurden gebaut, wie es gerade kam. Die eigentlichen Pilgerstädte liegen ein Stückchen weiter weg, meist am Fuße der heiligen Berge. Insgesamt gibt es fünf heilige Berge, davon existieren vier real und einer nicht in dieser Welt. Zusammen bilden diese fünf Berge die vier Kardinalrichtungen und das Zentrum des mythischen Kontinentes Nandishvaradvipa ab, eine Art von Paradies. Die fünf wichtigen Berg-Tempelstädte sind:

Frühe Jain-Tempel Rajasthans:
In Nordwestindien hat sich im 11. Jh. ein Tempeltyp herausgebildet, dessen Merkmale für die folgenden Jahrhunderte wegweisend wurden. Dieser Typus ist z. B. bei drei Dilwara-Tempeln auf dem Mount Abu vertreten:

Abbildung: Tejahpala- oder Luna-Vasahi-Tempel, ca. 1230 erbaut, Neminatha geweiht, Mount Abu, Rajasthan.

Abbildung: Vimala-Vasahi-Tempel, 1032-1045 erbaut, Adinatha geweiht, Mount Abu, Rajasthan.

Abbildung: Tempel, 1439 erbaut, auch Adinatha geweiht, Mount Abu, Rajasthan (sinnvoll ergänzte Rekonstruktion, weil unvollendet. Der ganze obere und rechte Teil fehlt).

Späte Jain-Tempel: Der Chaumukh-Tempel
Ein späterer Tempeltyp der Tempelarchitektur der Jain in Rajasthan ist der Chaumukh-Typ: Er entwickelte sich im 15. Jh. aus dem oben beschriebenen Typus und zeichnet sich durch folgende Elemente aus:

Abb.: Chaumukh-Tempel, Parshvanatha-Tempel, Mount Abu, Rajasthan.

Der Höhepunkt: Adinatha-Tempel in Ranakpur
Bei dem Adinatha-Tempel in Ranakpur aus dem 15. Jahrhundert schließlich werden beide Elemente vereint zu einem Höhepunkt der Jain-Architektur. Ranakpur verkörpert die Verschmelzung von religiösen Prinzipien mit ästhetischen Ansprüchen und lichter Eleganz. Der Tempel ist dem ersten Tirthankara geweiht.

Jain-Dekor:
Selber einfachst lebend, im persönlichen Leben die Einschränkung bis zur Askese lebend, aber bei Zuwendungen zu religiösen Stiftungen und Tempeln nicht sparend, das ist typisch für die Jain-Religion. Das hat zu kostbarster Ausstattung der Jain-Tempel in Rajasthan geführt. Insbesondere der weiße Marmor, der für den Mount Abu aus über 20-30 km Entfernung (Steinbrüche von Arasoori) herangeschafft wurde, erzeugt in Kombination mit dem filigranen, tief unterschnittenen Dekor eine Atmosphäre unirdischer Schönheit und Anmut. Minuziös gemeißelt, von fast durchsichtiger Feinheit, hat der Dekor der Jain-Tempel auf dem Mount Abu und in Ranakpur oder in Jaisalmer nicht seinesgleichen. Es gibt vielfältigen Skulpturen-Zierrat an Säulen, Kapitellen, in den Kuppeln, an Türrahmen und an den Wänden, Kassettendecken und Kuppeln der Heiligtümer. Die besondere Qualität des Marmors machte es möglich, die Figuren aus dem Stein wie aus Elfenbein zu schneiden. Die vielfältigen, oft himmlischen Wesen, die bilderbuchartigen Darstellungen der Lebensgeschichte der Tirthankaras oder wichtigen Ereignisse aus der Geschichte der Jain-Religion sollen den Gläubigen in eine reflektierende Stimmung versetzen.

Architektur der Jain-Tempel
Erlebnis Ranakpur - Zu Besuch in den Dilwara-Tempeln auf dem Mount Abu
Photos: Ranakpur (1) - (2) - (3) - (4) - (5) - (6)

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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