Bernhard
Peter
Zu
Besuch im Jain-Tempel von Ranakpur
Idylle
am Fuß der Dschungelberge
Einsam und idyllisch gelegen,
in Luftlinie nur ca. 10 km von der in atemberaubender
Berglandschaft gelegenen Wolkenfestung Kumbhalgarh in einem
lichten Dschungeltal gelegen, befindet sich hier in Ranakpur
fernab von den Touristenströmen und der lärmenden Hektik der
Großstädte eines der besten Kunstwerke Indiens. Von der
Bergstraße öffnet sich der Blick von oben auf ein weites Tal,
an dessen rechten Rand sich der Tempel an den flachen Hang
schmiegt. Beim Näherkommen erst fällt auf, wie kompakt die
Baumasse ist. Ein am Haupteingang relativ hoher Sockel gleicht
den Hangabfall aus; über eine großzügige Treppenanlage erreich
man den mehrstöckigen Haupteingang, dessen verschiedene Etagen
große rechteckige Öffnungen haben, während rechts und links
desselben kompakte, bis auf Horizontal- und Vertikalgliederungen
schmucklose Mauern mit unzähligen kleinen Dächern in langer
Reihe einen eher festungsähnlichen Eindruck machen. Insgesamt
vermittelt die Anlage einen Eindruck großer Harmonie: Die stark
reliefierte Hügellandschaft paßt zur kraftvollen
Durchgestaltung der Tempelfassade, Landschaft und Architektur
passen sehr harmonisch zusammen; die leuchtenden Blüten des
parkartigen Gartens davor mit seinen riesigen schattenspendenden
Bäumen füllen einen mit Lebensfreude, die sich dramatisch über
dem Aravalli-Gebirge zusammenballenden grauen Wolken bilden einen
dunklen Hintergrund zu den hellen Mauern, während im Hintergrund
Pfaue schreien.
Ein
paar Regeln zum Besuch von Jain-Tempeln
Beim Besuch von Jain-Tempeln
sollte man ein paar Regeln beherzigen:
Das
unirdische Starren der Idole
Die Bildnisse sieht man nicht
gleich auf den ersten Blick, aber wenn man sie in den dunklen
Kammern sitzend entdeckt hat, verfolgen sie einen. Der ganze
äußere umlaufende Gang grenzt an fensterlose Zellen, in denen
auf einem kleinen Podest die Tirthankara-Figuren sitzen. Mit
wenigen Ausnahmen sehen sie alle gleich aus, gleich aus
blütenweißem Marmor, gleich mit Hibiskusblüten geschmückt,
gleichermaßen mit großen starrenden Augen den Blick in eine
unbestimmte Ferne richtend. Alle wirken gleichermaßen
unpersönlich und entrückt, in dem verwirrenden Grundriß hofft
man vergeblich auf individuelle Züge, anhand derer man sich
merken könnte, in welcher Ecke des Gebäudes man sich befindet
aber nein, das ewig gleiche unverbindliche Lächeln ohne
Eigenschaften verwirrt einen aufs Neue. Die entrückten Gestalten
haben zwar anthropomorphe Gestalt, aber keine individuellen oder
menschelnden Züge, bloße Hülle einer menschlichen Gestalt,
Menschen ohne ein eigenes Wesen, ohne eigene Züge. Und genau das
ist auch Programm: Nicht irgendwelche Götter wie im Hinduismus
sind das, die sich bekämpfen, die saufen und lieben, sondern so
perfekte Menschen, daß sie im Grunde für den Normalsterblichen
nicht identifikationsfähig sind.
Lichtmystik
unter Kuppeln
Schönster Platz im äußeren
Umgang ist jeweils der Kuppelraum vor den vier Eingängen, über
drei Stockwerke hoch, mit eng stehenden stark reliefierten
Säulen, mit vielen Ebenen des Lichts und des Schattens, weil
durch die Fenster der einzelnen Etagen immer wieder etagenweise
Licht ins Gebäude fällt. Das Bauwerk spielt mit Enge und Weite,
mit Licht und Schatten, mit eingebautem und umbautem Raum, mit
eng kondensierter Struktur und Öffnung nach außen. Von der
Struktur her haben wir einen umlaufenden Gang mit den ganzen
Tirthankara-Zellen. Vom zentralen Bau in der Mitte gehen axiale
Hallensysteme zu den in der Mitte jeder Seite gelegenen
Eingängen. Diesem Achsenkreuz überlagert ist noch ein
quadratischer Ring, der die vier Achsen schneidet, mit jeweils
einem Shikhara in den vier Ecken. Dadurch erhält der Bau
zugleich die Form eines fünfschreinigen Tempels (Pancaratha).
Daraus ergeben sich vier größere Höfe und vier schmale
gewinkelte, eher Lichtkorridore zu nennen. An jeder Phasengrenze
zwischen Tempelhalle und Hof kommt es zu einem Lichtgradienten
von außen nach innen. Dazu kommt, daß die umlaufenden Gänge
einstöckig, andere Bereiche zweistöckig, die Eingangshallen
aber dreistöckig sind, wobei der Kuppelraum darin durch alle
drei Stockwerke reicht. Somit kann das Licht auch von oben in die
Räume fluten, aber nicht einfach als gleißende Sonne, sondern
durch die Maueröffnungen dosiert. Dadurch wird dem Raum eine
gestaffelte Helligkeit verliehen. Eigentlich ist das ganze
Gebäude aus Marmor der gleichen Farbe errichtet. Aber durch die
unterschiedliche Intensität des Lichtes erhält jeder Bereich
des Tempels zusätzliche Raumdynamik und Tiefe, so daß die
einzelnen Raumkompartimente nicht als separate Abschnitte,
sondern als notwenige Zwischenstufen einer rhythmisch
strukturierten Lichtmystik erlebt werden, von den scharfen
Kontrasten an den Hofgrenzen bis zu den im milden Dämmerlicht
stehenden innersten Säulen.
Die Kuppeln ruhen jeweils auf einem achteckigen Gebälk, das
über einem Quadrat aus je 12 Säulen unter Aussparung der
Ecksäulen errichtet wird. Mit Ausnahme dieser Tanzhallen stehen
die Säulen relativ dicht, was dem Raum einen zusätzlichen
Rhythmus aus Enge und Weite verleiht.
Ein Mönch rückt den Besuchern orangefarbene Flecken auf die
Stirn und kassiert Spenden. In einer Galerie bereitet ein Mann in
einem riesigen Steinmörser eben diese orangefarbene Paste aus
diversen Ingredienzien mit einem gewaltigen hölzernen Pistill
zu. Ein Junge von entzückendem Aussehen mit der Eleganz eines
Panthers in seinen Bewegungen, gekleidet in einen roten Lunghi,
ein weißes Shirt und eine gelbe Schärpe offeriert Zugang zu den
oberen Geschossen zu einem Wucherpreis von 100 Rp.
Das
Beste an indischer Bauplastik
Der prachtvollste Bereich sind
die vier an die zentrale Baueinheit von allen Seiten
anschließenden Hallen. Der Marmor schimmert honigfarben, Licht
flutet an den Seiten herein und gibt den exquisiten Reliefs Tiefe
und Wirkung. Feinst gearbeitete wellenförmige freitragende
Zierbögen spannen sich zwischen den Säulen. Diese vier
Tanzhallen gehören zu dem Feinsten, was indische Architektur
hervorgebracht hat.
Die einzig richtig hellen Bereiche sind die vier inneren
rechteckigen Höfe, wo einen ungefilterte Helligkeit blendet, und
die brutale Härte des direkten Sonnenlichts den Zauber der
Hallen von einem nimmt. Schnell geht man wieder in das
Dämmerlicht der Galerien und bestaunt immer neue phantasievolle
Gestaltungen der Säulen, Simse und Kuppeln. Man kann sich kaum
sattsehen an den exquisiten Steinmetzarbeiten. Die Fülle ist so
groß, daß man wie verloren immer neue atemberaubende
Darstellungen findet und sich richtig zwingen muß, eine Säule
nach der anderen zu lesen und nicht wie berauscht von
Halle zu Halle zu eilen.
Typische Jain-Motive (Fratzenfriese, einzelne Fratzen,
Muschel-Schnecken) schmücken die Schwellen der Durchgänge und
Zellen. Ganz typisch sind die Kirthimukhas, die Fratzen an den
Schwellen zum Abwehren böser Geister, sowie die halbrunde
markante Ausbuchtung der Schwellen nach außen. Die
Muschelschnecken oder Muschelhörner symbolisieren mittelbar die
heilige Silbe Aum, denn ihr Klang gilt als heilig und
kommt angeblich dem Klang der heiligen Silbe sehr nahe.
Ranakpur ist ein absolutes Highlight. Zusammen mit den Dilwara-Tempeln von Mount Abu gehören die Tempel zu dem Schönsten, was in Indien je an Tempel erschaffen wurde.
Architektur
der Jain-Tempel
Erlebnis Ranakpur - Zu
Besuch in den Dilwara-Tempeln auf dem Mount Abu
Photos: Ranakpur
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Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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