Bernhard Peter
Seelenwanderung und Wiedergeburt in den indischen Großreligionen

Hinduistische Vorstellung von der Wiedergeburt:
Die Seele Atman ist die Seele, die den körperlichen Tod überdauert. Durch Karma ist die Seele zur Wiedergeburt gezwungen. Die Seele "Atman" ist ewig, unfaßbar, unzerstörbar, unsterblich, unanhaftbar, unverletzlich. Sie ist das Selbst, das in immer neuen Verkörperungen erscheint. Die Seele "Atman" ist kontinuierlich, ihre Verkörperung diskontinuierlich. Die Bagavadgita unterscheidet ebenso zwischen der Individualseele "Jiva", die der "Atman" entspricht, und der bekörperten Seele "Dehin", die der momentanen Existenz in der Zeit entspricht. Wenn der Körper zugrunde geht, bleibt die Seele Atman bestehen. Die Seele Atman ist das Kontinuum beim Durchlaufen der verschiedenen Existenzen. Sie durchzieht die einzelnen Existenzen wie ein Faden die Perlen einer Kette. Wie die Perlen durch den Faden, so erhalten die einzelnen Existenzen durch das sie verbindende Atman eine gemeinsame Existenz und Identität. Die Seele muß durch eigenes Bemühen erlöst werden. Nach der Befreiung vom Zwang der Wiedergeburt fällt die Seele Atman zurück in Brahman und verschmilzt wieder mit der Urbeseeltheit.

Jainistische Vorstellung von der Wiedergeburt:
Die Seele Atman ist genau wie im Hinduismus die Seele, die den körperlichen Tod überdauert. Die Seele muß ebenfalls durch eigenes Bemühen erlöst werden. Viele Vorstellungen entsprechen den hinduistischen, im Detail ist die Karma-Lehre aber komplexer. Durch Karma ist die Seele zur Wiedergeburt gezwungen. Die Seele "Atman" ist ewig, allwissend, bewußt, vollkommen, sorgenfrei, unsterblich. Sie ist das Selbst, das in immer neuen Verkörperungen erscheint. Die Seele "Atman" ist kontinuierlich, ihre Verkörperung diskontinuierlich. Im Unterschied zum Hinduismus ist die Seele Atman aber anhaftbar. Der Jainismus unterscheidet strikt zwischen belebten und materiellen Elementen. Die Seele ist belebt und immateriell. Karma ist materiell. Karma kann sich in Form materieller Partikel an eine Seele anheften. Karma-Partikel sind feine materielle Verunreinigungen der Seele. Diese Verbindung von Seele und Materie durchläuft den Weltenkreislauf und wird bis zur Befreiung immer wieder geboren. Auch der Jainismus unterscheidet zwischen zwei Seelenbegriffen, aber mit leicht unterschiedlicher Bedeutung: Atman ist die reine Seele, vollkommen, unbekörpert, geistig, frei von anhaftenden Partikeln. Jiva ist dagegen die Seele, an die sich Karma-Partikel angeheftet haben und sie so unrein und unvollkommen gemacht haben. Durch die Anhaftung von Karma-Partikeln wird die Seele zu einer physischen Existenz und zur Teilnahme am Wiedergeburtszyklus gezwungen. Aus der Bindung von Materie an Atman, aus der Entartung von Atman zu Jiva, resultiert das Leiden. Seiner Natur nach ist das Konglomerat aus Seele und Materie veränderbar. Durch gute Handlungen, die weder von Leidenschaften noch von Eigeninteresse bestimmt wird, verringert sich der Anteil anhaftender Karma-Partikel, und die Seele wird in günstigerer Position wiedergeboren. Erlösung ist die Rückverwandlung der Jiva in Atman, also die Befreiung der Seele vom Karma und vom Zwang zur Wiedergeburt, erst durch das Verhindern der Anlagerung (Influx) weiterer Karma-Partikel, dann durch schrittweise Reduktion der schon bestehenden, in früheren Leben eingeflossenen Karma-Partikel und der Karma-Bindung der Seele durch strenge Observanzen und Achtsamkeit und rechtes Verhalten in jeder Lebenslage. Nach Wiederherstellung des reinen Urzustandes, nach der Befreiung der Seele vom Zwang der Wiedergeburt leben die Erlösten (Siddha) in Siddhaloka, einem speziellen Paradies oberhalb der Welten.

Fassen wir zusammen: Der Jainismus teilt mit dem Hinduismus die Vorstellung einer ewigen Seele, von Karma und von Wiedergeburt. Er hat aber eine ganz eigenständige Theorie von der Bindung und Befreiung von Karma entwickelt, die den Gläubigen eine Befreiung von der Karma-Bindung der Seele durch eigenes Bemühen in Aussicht stellt.

Buddhistische Vorstellung von der Wiedergeburt:
Im Gegensatz zum Seelenglauben (Atmavada) der Hindus und Jaina pflegt der Buddhismus das Prinzip der Seelenverneinung (Anatmavada), glaubt aber dennoch an die Wiedergeburts- und Karma-Lehre. Es gibt keine den Tod überdauernde Seele. Bei der Wiedergeburt eignet man sich eine neue Persönlichkeit an, bestehend aus genau 5 Faktoren: Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Bewußtsein und Geistesregungen (sog. 5 Gruppen der Aneignung). Keine dieser Gruppen hat die Charakteristika einer Seele, sie sind weder ewig noch unveränderbar. Nirgendwo ist Ewigkeit, auch nicht in einer Seele. Wir haben also im Buddhismus die Schwierigkeit verschiedener Existenzen, die keine gemeinsame verbindende Seele haben, die aber dennoch kausal aneinander gebunden sind. Der Vorgang der Wiedergeburt findet ohne Seelenwanderung stat, denn es gibt kein Ich, keine Seele oder dergleichen, welches von einer Existenz zur nächsten wandern könnte. Auf der einen Seite gibt es mangels Seelenwanderung keine die Existenzen verbindende Identität, auf der anderen Seite haben wir eine bedingende kausale Abhängigkeit der Existenzen, die man am ehestens als eine Art Impulsweitergabe bezeichnen kann. Eine Vorexistent bestimmt durch ihr Bewußtsein die Qualität der Nachexistenz. Für die Buddhisten müssen für die Wiedergeburt als Mensch folgende Bedingungen erfüllt sein: Ein Elternpaar muß Geschlechtsverkehr haben, die Frau muß ihre fruchtbare Periode haben und ein Lebewesen, das karmisch gerade diese Wiedergeburt bedingt, muß sterben und sein Bewußtsein (Vinnana) als Impuls weitergeben. Analoges gilt für alle anderen Lebewesen. Für Buddhisten sind also die biologischen Prozesse der Zeugung notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen für die Entstehung eines neuen Lebens. Der Vorgang der Wiedergeburt wird primär von Bewußtseinsprozessen, von Impulsen gesteuert, materielle Prozesse treten erst sekundär auf. Im Detail läuft die Wiedergeburt so ab, daß das Bewußtsein eines Sterbenden, sein Impuls, sein Vinnana, im Moment seines Todes in die Mutter eingeht und dort quasi katalytisch eine neue Existenz formen hilft. Das Kind entwickelt später freilich seine eigene Existenz und sein eigenes Bewußtsein. Antriebskräfte zur Wiedergeburt sind Impulse, die aus Gier, Haß, Unwissenheit in einem Menschen entstehen. Das Bewußtsein wandert dabei aber nicht direkt in das neue Wesen, deshalb fehlt im Buddhismus die "Schnur, die die Perlen der Kette verbindet". Die einzelnen Existenzen werden nur durch einseitige Bedingtheit und weitergegebene Impulse verbunden, nicht durch Identität. Wiedergeburt ist ein reiner Bedingungszusammenhang, bei dem ein vorhergehender Zustand einen späteren bedingt, ohne daß irgendein substantielles Substrat bleiben würde. Die Art und Stärke des weitergebenen Impulses bestimmt die Qualität der Nachexistenz, somit ist es durch eigene Anstrengung möglich, die Art der Nachexistenz zu beeinflussen. Überwindung der Gier, Bekämpfung der Unwissenheit, Erlöschen des Hasses können die Wiedergeburt aufheben. Erlösung ist Eingang ins Nirvana, d. h. Verlöschen, d. h. Erreichen einer Existenz, von der keine neuen Impulse mehr ausgehen, so daß auch keine neuen Kausalitäten entstehen.

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