Bernhard
Peter
Kalender
und Zeitrechnung:
Schöpfungs-Mathematik Indiens
Nach der Hindu-Tradition durchläuft die Welt kontinuierliche Zyklen von verschiedenen, mitunter sehr großräumigen Zeitaltern. Charakteristisch ist immer eine Phase der Aktivität, eingeleitet durch Schöpfungsaktivität und beendet durch Zerstörungsaktivität, auf die dann ein neuer Zykus folgt, oft abgetrennt durch eine Ruhe-, Nacht- oder Dämmerungsphase. Dieses ständige Auf und Ab begleitet die Geschichte der Zeit. Selbst der Gott Brahma ist dem Zyklus von Werden und Entwerden unterworfen, wenn auch in gänzlich anderen Zeitdimensionen als der Mensch.
Charakteristisch ist das Hantieren mit überaus großen Zahlen. Auch wenn manche Menschen heute versuchen, die Zyklen in esoterischer Begeisterung als Ausdruck der detaillierten Kenntnis der weiträumigen Vorgänge im Sonnensystem zu deuten bis hin zu Urknall und Supernova oder Marsjahren - man kann einfach alles damit beweisen -, ist die eigentliche Absicht dieser großen Zeiträume wohl eher eine andere. Durch die immensen Zahlen wird eine Art Bedeutungsmaßstab aufgestellt, wird die Größe, Macht und Möglichkeit der Götter dargestellt, während der einzelne Mensch zur zeitlichen Marginalität wird.
Durch die Mathematik und die Verschachtelung der Zyklen wird ein anderes Zeitgefühl geschaffen, ein Gefühl von Zeit in ihrer periodischen Form, ein Gefühl von Zeit als Zustand, ja Zeit wird als eigener Wert von göttlicher Natur erlebt. Zeit (Kala) wird zu einer Manifestation des Göttlichen.
Weiterhin ist die Botschaft der verschachtelten Zyklen auch die von der Kraft der Erneuerung und der Vergänglichkeit des Bestehenden, oder nennen wir es den Bestand allein der Veränderung - panta rei. Der Fluß der Zeit ist allein ewig, es gibt keinen Endpunkt und keinen Anfangspunkt, solche Punkte sind immer relativ in Bezug auf noch größere Zyklen. Alles, was mit der Zeit mitfließt, kann an ihren Segnungen teilhaben. Die Lebenszeit eines einzelnen Menschen wird vor dem Hintergrund immenser Dimensionen insignifikant. Umgekehrt wird der Mensch erst durch Teilnahme an der Zyklizität der Zeit mittels Wiedergeburten Teil des Systems.
Zeit erhält durch die Verschachtelung der Zyklen auch eine kosmische Dimension. Durch die lückenlose Verbundenheit aller Zeiteinheiten und die immerwiederkehrenden Zahlenverhältnisse ist jedes noch so kleine Ding in Zusammenhänge von kosmischer Größe und Dimension eingebunden.
Dadurch werden auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eng verbunden, denn alle drei koexistieren im Absoluten.
Schöpfung ist die Manifestation des Absoluten in einem konkreten zeitlichen Rahmen. Nach Ablauf eines Zyklus fällt das Universum wieder in das Absolute zurück, und wir erleben wieder eine Phase der Nicht-Manifestation als Voraussetzung dafür, daß wieder Schöpfung möglich ist. Das sind die Tage und die Nächte Brahmas. Schöpfung findet statt, um unterzugehen, Geschöpftes geht unter, um wieder neu entstehen zu können. Alles ist vergänglich - soweit die schlechte Nachricht. Schöpfung ist unendlich möglich - das ist die gute Nachricht.
Kalpa
- Ein kosmischer Tag des Schöpfergottes Brahma
Kalpa ist ein
kosmischer Tag Brahmas und dauert 4 320 000 000 (4.32 Milliarden)
Sonnenjahre. Am Anfang eines Schöpfungstages beginnt die
Schöpfung. Am Ende desselben geht wieder alles Geschaffene im
Absoluten auf. Damit ist ein Kalpa ein kosmischer Zyklus von
Werden und Entwerden, von Schöpfung und Vernichtung.
Ein kosmischer Tag umfaßt 14 Perioden oder Manvantaras zu 306
720 000 Sonnenjahren.
Die nächstkleinere Einheit eines kosmischen Tages ist ein
Manvantara, davon gibt es vierzehn Stück. Ein Manu beherrscht
eine solche Periode. Wir leben im 7. Manvantara, die ersten 6
sind vergangen, 7 weitere werden kommen. Im einzelnen sind ihre
Namen:
Nach den sieben noch kommenden Manvantaras wird kosmische Nacht die Welt einhüllen. Wer mitgerechnet hat, wird feststellen: 14 x 306 720 000 = 4 294 080 000. Da fehlt noch etwas zu 4.32 Milliarden (10 000 l). Die Manvantaras schließen nicht direkt aneinander an, sondern am Anfang und am Ende des Kalpa sowie zwischen jeweils zwei Manvantaras sind Zeiten der Dämmerung, die Manvantara-Dämmerung von jeweils 4 l. 1 l ist die Grundeinheit von 432 000 Sonnenjahren. Für Dämmerung müssen in einem Kalpa also 15 x 4 l = 25 920 000 Sonnenjahre veranschlagt werden. Die Zeit der Dämmerung wird Sandhi Kala genannt. Während der Dämmerung taucht die gesamte Erde im Ozean unter. Mit diesen Zeiten der Dämmerung kommen wir auf die 4.32 Milliarden Jahre in einem Kalpa. Die Dauer eines Kalpa ist äquivalent zu 1000 Mahayugas, der nächstkleineren Einheit der Manvantaras. In Wahrheit muß man aber die Zeiten der Dämmerung abziehen, so daß für tatsächliche Mahayugas nur 994 an der Zahl übrig bleiben. Ein Mahayuga dauert 10 l, also 4 320 000 Sonnenjahre, und 60 l sind Zeiten der Dämmerung. 994 Mahayugas verteilen sich auf 14 Manvantaras, so daß pro Manvantara 71 Mahayugas verbleiben.
Noch einmal zum Vergleich:
Die
Feinstruktur eines Manvantara
Ein Manvantara ist
einer der 14 Untereinheiten eines kosmischen Schöpfungstages und
dauert 710 l bzw. 306 720 000 Jahre. Ein Manvantara ist
unterteilt in insgesamt 71 Mahayugas ("große Yugas").
Momentan leben wir im 28. Mahayuga des 7. Manvantara. Jedes
Mahayuga ist wieder in 4 Yugas unterteilt. Die Mahayugas
schließen nahtlos aneinander an, ohne jeweils durch eine Phase
der Dämmerung voneinander getrennt zu sein.
Die
Feinstruktur eines Mahayuga
Ein Mahayuga umfaßt
vier Yugas (Zeitalter). Diese Vierheit der Zeitalter wird auch
Chaturyuga genannt und dauert 4 320 000 Sonnenjahre oder 10 l. Das
gegenwärtige 28. Mahayuga umfaßt folgende vier Yugas
unterschiedlicher Dauer:
Gegenwärtig leben wir im Kali-Yuga, also im letzten und kürzesten Zeitalter des gegenwärtigen 28. Mahayuga. Das Kali-Yuga besteht zum größten Teil aus der zentralen Periode von 360 000 Sonnenjahren (5/6 von 1 l) Am Anfang und am Ende gibt es jeweils ein Dämmerung von 36 000 Jahren (jeweils 1/12 von 1 l), die aber zur Kali Yuga dazugerechnet werden. Und wir? Wir haben gerade mal ein Zwölftel der Anfangsdämmerung des Kali Yuga hinter uns gebracht, wir sind also noch nicht einmal in dessen zentrale Periode eingetreten. Unsere gesamte Geschichte, von der Indus-Zivilisation bis zum dritten Golfkrieg, alles nur ein dünner Strich am unteren Rand des kleinsten, letzten Zeitalters des 28. Mahayuga des 7. Manvantara eines einzigen Schöpfungstages von Brahma!
Für die ein- und ausleitenden Dämmerungen gelten:
In der Abfolge der vier einzelnen Yugas aufeinander steckt aber auch die Botschaft stetigen Niedergangs bis zur nächsten Runderneuerung, bis zum nächsten "Hochbooten" des Systems. Aufgrund des moralischen und physischen Niedergangs nimmt die Länge der Yugas schrittweise ab. Im Goldenen Zeitalter ist die Welt noch in Ordnung, dann nimmt die Verderbtheit immer weiter zu, so daß die Phasen immer weniger lange dauern können, schließlich hilft gegen die Verderbtheit der Welt nur noch die Zerstörung, sozusagen der "Reset-Knopf", um wieder unbeschwert ein neues goldenes Zeitalter zu erleben.
Vishnus Inkarnation Rama aus dem Ramayana lebte übrigens im Treta Yuga. Und seine Inkarnation als Krishna wurde im Dvapara Yuga geboren. Unser Kali Yuga begann in der Zeit der Ereignisse der Mahabharata.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß es gegen Ende des 19. Jh. AD ein abweichendes Schema von Sri Yukteswar gibt mit kürzeren Zeiteinheiten.
Wie alt
ist das Universum an diesem Tage Brahmas?
Das gegenwärtige
Kali Yuga begann nach der Surya Siddhanta um Mitternacht am
Wechsel vom 17. zum 18. Februar im Jahre 3102 v. Chr. des
proleptischen julianischen Kalenders. Seit Beginn des Kalpa sind
bis zum Jahre 2005 AD vergangen:
Das ergibt zusammen 1 972 949 107 Sonnenjahre als Alter für das Universum an diesem Schöpfungstage Brahmas. Gigantische Dimensionen, in denen ein Menschenleben noch nicht einmal einen Augenblick dauert. Warum diese Dimensionen? Vielleicht ist es eine Art Bedeutungsmaßstab, um all die schöpferische Größe und Gewalt des Gottes Brahma zu feiern und Unsterblichkeit mathematisch zu nähern.
Rechnen
wir doch nicht mehr in menschlichen, sondern in göttlichen
Jahren:
1 göttliches Jahr
sind 360 Sonnenjahre. Dann sehen die Zahlen wie folgt aus: Ein
Mahayuga oder Caturyuga dauert 12 000 göttliche Jahre.
Achtung: Ein göttliches Jahr ist nicht identisch mit einem Jahr Brahmas! s.u.
Gibt es
auch eine Nacht nach einem Schöpfungstage Brahmas?
Sicher, nach einem
Schöpfungstag folgt eine Nacht, die genauso lange dauert,
nämlich ebenfalls 1000 Mahayugas oder 4 320 000 000 siderische
Sonnenjahre. Nach einem Schöpfungstag geht alles Erschaffene
wieder im Absoluten auf, und Brahma legt sich zur Ruhe und
schläft. Zwischen den einzelnen Kalpas überlebt nur Brahma.
Alles andere geht wieder zwischendurch im Absoluten auf.
Gibt es
noch größere Einheiten?
Sicher, 360
Schöpfungstage (Diva Kalpa) und anschließende Nächte (Ratri
Kalpa) ergeben ein Schöpfungsjahr Brahmas. Ein Schöpfungsjahr
besteht also aus 2 x 4 320 000 000 x 360 = 3,11 x 10 hoch 12
siderischen Jahren! Nach den Puranas hat Brahma schon 50 solcher
Jahre verbracht (Para Ardham), und wir befinden uns am
allerersten Tag seines 51. Schöpfungsjahres. Rechnen wir einmal
hoch, wie lange es schon Schöpfung gibt: 50 Jahre * (360 Tage
und 360 Nächte) x 4 320 000 000 Sonnenjahre = 1.5552*10 hoch 14
Sonnenjahre!!! Der Lebenszyklus Brahmas dauert 100 Jahre Brahmas
oder 3,1104 x 10 hoch 14 Sonnenjahre. Danach stirbt Brahma, es
findet Mahapralaya = Mahapralayam = Nirvikalpa Pralaya statt, die
komplette Auflösung aller Welten. Aber selbst dann geht es noch
weiter, denn Brahma kann nach einer Zwischenperiode, die genau so
lange dauert wie das Leben Brahmas (3,1104 x 10 hoch 14
Sonnenjahre), wiedergeboren werden, dann beginnt der Kreislauf
von Neuem. Und die Tage Vishnus sind noch größer, und damit
kommen wir der Unsterblichkeit schon sehr nahe.
1 Brahma Dina = 2 Kalpas = 1 Diva Kalpa + 1
Ratri Kalpa zu je 4 320 000 000 Jahren
1 Brahma-Jahr = 360 Brahma Dina = 720 Kalpa
1 Brahma-Leben = 100 Brahma-Jahre = 72000 Kalpa = 36 000 Brahma
Dina
Gibt es
auch kleinere Einheiten der Schöpfung?
Wenn es
Schöpfungsjahre und Schöpfungstage gibt, dann gibt es auch
Schöpfungssekunden: 1 Schöpfungssekunde = 4 320 000 000 / 12 /
60 / 60 = 100 000 Sonnenjahre. Das heißt, ein Mahayuga, das
unsere sämtlichen Zeitbegriffe übersteigt, dauert für Brahma
nur 43.2 Sekunden, und unser gegenwärtiges Zeitalter Kali Yuga
dauert für Brahma nur 4.32 Sekunden, und die menschliche
Geschichte seit Beginn des Kali Yuga dauert für Brahma nur 51
Millisekunden - von den Pharaonen bis zum Iraq-Krieg in weniger
als einem Augenblick.
Aber auch in menschlicher Dimension gibt es viele Zeitsysteme, deren Einheiten bis in für damalige Verhältnisse unmeßbar kleine Zeiten vorstoßen. Auf die komplette Auflistung der Begriffe sei hier verzichtet, zum einen, weil es verschiedene Systeme gibt, die voneinander abweichen, zum andern, weil die Idee als solche das Wesentliche ist: Selbst kleinste Zeiten und Vorgänge erhalten durch die lückenlose Staffelung der Begriffe und Einheiten ihre Anbindung an kosmische und göttliche Dimensionen.
Was
passiert am Ende des gegenwärtigen Zeitalters?
Im Jahre 428,899 AD
wird das Kali Yuga zu Ende sein. Kalkin, der 10. und zukünftige
Avatara Vishnus wird erscheinen und die Welt vom Unheil darin
befreien. Das Universum wird von Shiva zerstört werden. Dann
wird das Universum in ein neues Mahayuga eintreten und wieder mit
einem Goldenen Zeitalter beginnen, von Brahma an einem neuen Tage
geschaffen.
Langer
Rede kurzer Sinn: Wo stehen wir jetzt also genau?
Wir sind im Jahre
2005 AD im 5107. Jahr im Kaliyuga des 28. Mahayuga des 7.
Manvantara des ersten Brahma-Schöpfungstages (Varaha-Kalpa) des
51. Jahres von Brahma 2.
Der Sonderweg des Swami Sri Yukteshwar Giri
Kalendersysteme in
Indien: Überblick
Zeitrechnungssysteme
in Indien: Überblick
Der
Hindu-Nationalkalender (Indien)
Der
Malayalam-Sonnenkalender in Kerala (Süd-Indien)
Der
Orissa-Sonnenkalender (Indien)
Der
Tamil-Sonnenkalender in Tamil Nadu (Südindien)
Der
Bengal-Sonnenkalender in Westbengalen und Assam (Nordost-Indien)
Der
Sikh-Kalender im Punjab (Nordwest-Indien)
Die
Amantha-Kalender, lunisolare Kalender in Indien
Der
Purnimantha-Kalender, lunisolarer Kalender in Indien
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