Bernhard Peter
Vastu (1) - Mandalas und der Tempelplan

Vastu Shastra
"Vastu" bedeutet "physikalische Umgebung", "Shastra" ist ein Sanskrit-Wort, um "Wissen" bzw. "Kenntnisse" zu bezeichnen. Ein "Vastu Shastra" ist ein Text über über Design von Häusern, Tempeln und Städten, allgemein über Architektur und Städtebau, aber nicht im technischen Sinne, sondern im metaphysischen Sinne unter Einbezug der Kräfte und Energien des Kosmos, z. B. Gravitationskräfte oder elektromagnetische Kräfte und auch übernatürliche Kräfte der Götter. Diese Texte entstammen vedischer Überlieferung. Beispiele sind:

Kosmische Ordnung als Gestaltungsvorlage
Das Mandala der Architektur entspricht dem bewußten Wunsch, die äußeren Formen der Architektur auf die Gesetze des Universums zurückzuführen. Denn das Manifeste soll an die Welt des Nichtmanifesten angebunden werden, weil die Formen und die Gestaltung der manifesten Welt in dem Maße an Bedeutung zunehmen, in dem sie Bezug zum Nichtmanifesten haben und uns helfen, dieses zu verstehen. Das Augenscheinliche verweist auf tieferliegende Bedeutungsschichten, und deshalb ist es wichtig, die Architektur im Kleinen in den Zusammenhang des Großen zu stellen.

Magische Diagramme, sog. "Yantras" oder "Mandalas", symbolisieren schematisch die Strukturen und die Ordnung des Kosmos und helfen, selbige im Modell, d. h. in der Architektur nachzuvollziehen. "Mandala" ist dabei der allgemeine Ausdruck für einen Plan, der im metaphysischen Sinne den Kosmos abbildet und die diesen bestimmenden Gesetzmäßigkeiten symbolisch darstellt. In diesem Zusammenhang ist es der metaphysische Plan eines Gebäudes, der den Weg der Himmelskörper, Kräfte des Universums sowie übernatürliche Kräfte berücksichtigt. Das Mandala ist ein Quadrat, das durch ein Gitternetz in mehrere Unterquadrate und konzentrische Zonen aufgeteilt ist. Eine Zone äußerer kleiner Quadrate umgibt immer wieder das jeweils innen liegende größere Quadrat. Der Gitterplan ist eine uralte indische Tradition und übrigens schon aus der Harappa-Zeit bekannt. Ein solches Mandala ist ein Mikro-Abbild des Universums in seiner konzentrischen Struktur. Dieses Quadrat wird zum formalen Ordnungsprinzip von Architektur und stellt so einen Bezug her zwischen dem Universum, der Werk und Tummelplatz der Götter, und dem Tempel, dem Werk der Menschen zur Verehrung der Götter. In dem Maße, in dem die Ordnung des Universums und die Ordnung des Bauwerks strukturell und räumlich übereinstimmen, wird der Tempel zum Modell, zum Analogon des Universums.

Das Yantra oder Mandala bildet die Grundlage der Architektur. Als Ordnungsprinzip kommt es sowohl für religiöse als auch für profane Bauwerke, ja sogar für ganze Städte in Frage. Es ist aber kein Bauplan, sondern illustriert die an den jeweiligen Stellen herrschenden Energien, ist in seiner Gesamtheit eher einem Energiefeld zu vergleichen als einem Bauplan. Es gibt viele Möglichkeiten, so ein Tempel-Mandala zu zeichnen, die Serie enthält jeweils 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, .....1024 kleine Quadrate. Ein kleines Quadrat wird "Pada" genannt. Ein "Pada" ist also eine modulare Einheit eines Mandalas. Besonders populär sind das 8er- und das 9er-Gitternetz mit 64 bzw. 81 kleinen Quadraten.

Die verschiedenen Arten von Mandalas
Das grundlegende Mandala ist immer quadratisch und durch weitere (1-32) Unterteilungen der Seiten in viele kleine Unterquadrate aufgeteilt. Dafür gibt es nun viele Möglichkeiten, wobei jedes einzelne Mandala einen eigenen Namen hat und in einem besonderen Zusammenhang benutzt wird:

Als Beispiel sei hier ein 64er-Mandala abgebildet, das um den zentralen Block für Brahma mehrere kompakte Viererblöcke in jeder der vier Hauptrichtungen und hervorgehobene Diagonalpositionen aufweist:

Das Zentrum, in fast allen Mandalas für Brahma reserviert, hat verschiedene Größen:

Anmerkung: Das Pitha-Mandala ist ein verstärktes Prthivi-Mandala, bei dem Prthivi-Mandala wird das Zentrum aber von der Erde belegt.

Man unterscheidet die Mandalas ferner wie folgt:

Mit der Projektion der Planeten oder der 28 Nakshatras (Mondhäuser) wird ein Vastu-Mandala auch zur Projektion der Bewegungen der Himmelskörper. Die 32 äußeren Positionen in einem 9x9-Mandala setzen sich zusammen aus den Herrschern der 28 Mondhäuser und denen der vier Planeten, die mit den Punkten der Tagundnachtgleiche in Zusammenhang stehen.

Das Mandala als Pantheon
Mit der Zuordnung der Quadrate zu Göttern ist das Mandala zugleich ein Pantheon, das die Welt der Götter ordnet und strukturiert. Abgebildet ist hier ein Beispiel für ein 81er-Mandala:

Je nach verwendetem Mandala ist die Auswahl der Götter unterschiedlich. In anderen Darstellungen ist z. B. Kubera als Gott des Wohlstandes in der Nordrichtung vertreten.

Der Gitterplan hat Auswirkungen bis ins Detail: Entsprechend diesem Plan werden die Skulpturen der Götter im Tempel verteilt.

Das Vastu-Purusha-Mandala
Es gibt häufig Darstellungen als Vastu-Purusha-Mandala, in denen eine menschliche Figur, der sog. kosmische Mann Mahapurusha, diagonal mit angewinkelten Armen und Beinen so auf ein Tempel-Mandala gezeichnet wird, daß er die Fläche maximal ausfüllt. Jedes Quadrat wird mit einer Partie seines Körpers verbunden. Das Vastu-Purusha-Mandala ist ein spezielles Mandala, welches im Vastu Shastra zur Anwendung kommt und ein unverzichtbarer Bestandteil desselben ist. Diese Figur steht symbolisch in Zusammenhang mit Schöpfungsprozessen im Universum. Der Tempel wird damit nach dem Modell des kosmischen Menschen (Purusha) gestaltet.

Gewöhnlich wird der kosmische Mann so dargestellt, daß sein Kopf im Nordosten zu liegen kommt und die Füße im Südwesten, so wie hier im Paramasaayika-(9x9)-Mandala abgebildet. Er kann aber seine Position auch ändern. Im Manduka-Mandala (8x8) wird der kosmische Mann mit dem Kopf nach Osten und Füßen nach Westen abgebildet.

Richtung und Ausrichtung
Der Tempelgrundriß folgt einem präzisen achsialen Plan und wird streng nach den Kardinalrichtungen ausgerichtet, in der Regel in der Ost-West-Achse. Meistens wird der Tempel nach Osten ausgerichtet, einige wenige blicken aber nach Westen. Das kann daran liegen, daß, wenn ein Tempel einer bestehenden Ansiedlung hinzugefügt wird, darauf geachtet wird, daß Tempel mit wohlmeinenden Göttern (Shantu-Götter, z. B. Vishnu) zu dieser Ansiedlung hin orientiert werden, Tempel mit furchterregenden Göttern (Ugra-Götter, z. B. viele Manifestationen Shivas) aber von ihm weg, denn diese dürfen nie auf menschliche Behausungen blicken.

Das Tempelzentrum – die Mitte des Universums
Das Zentrum eines Tempel-Mandalas ist der wichtigste Punkt des Tempelgrundrisses: Hier erfährt der Gläubige unmittelbaren Kontakt mit dem symbolischen Zentrum der Welt und der kosmischen Ordnung. Hier kann der Gläubige seine Verwandlung erfahren. Hier ist der Omphalos. Hier deckt sich das Zentrum mit dem Weltenberg Meru, hier werden die aus allen Himmelsrichtungen zusammenlaufenden Achsen gebündelt und in die vertikale Weltenachse umgelenkt. Aus allen Gründen ist die Dynamik der Tempelarchitektur auf dieses Zentrum ausgerichtet.

Vastu (1) - Mandalas und der Tempel-Plan
Vastu (2) - Das Mandala und die Stadt: Der Plan von Jaipur
Vastu (3) - Praktische Regeln für die Architektur

Anwendung (1) - Somnathpur
Anwendung (2) - Brahmeshvara-Tempel in Bhubaneshvar
Anwendung (3) - Rajarani-Tempel in Bhubaneshvar
Anwendung (4) - Tempelstadt Srirangam in Tamil Nadu

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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