Bernhard Peter
Vastu
(3) - Praktische Regeln für die Architektur
Vastu ist das indische
Gegenstück zum bekannteren Feng Shui. Genauso wie bei diesem
gibt es eine Vielzahl von Regeln, die dafür sorgen, daß der
Mensch in Harmonie mit dem Universum und seinen Energien lebt.
Wie wichtig die Anbindung an kosmische Zusammenhänge ist, sieht
man vielleicht erst, wenn wir uns bewußt machen, was wir beim
Bau eines Hauses tun: Wir schneiden für unseren Eigengebrauch
ein Stück aus dem kosmischen Raum (Brahmanda) heraus, der uns
überall umgibt. Als Teil von Brahmanda gelten in diesem winzigen
für uns in Anspruch genommenen umbauten Raum die selben Regeln
wie für den gesamten Raum, und es ist besser, wenn wir in
Einklang damit leben, denn wir können uns diesen Kräften nicht
entziehen, soweit die passive Sichtweise. Wir können das Ganze
aber auch aktiv sehen: Wohnraum zu bauen, bedeutet ein Universum
im Kleinen zu schaffen. Architektur ist Aufbau einer aktiven
Beziehung zum Raum und zur Natur, zum Universum und letztlich zum
Göttlichen. Architektur findet statt an der Berührungszone von
menschlicher Kreativität und universalen Gesetzen und wird zur
Schnittstelle, deren Gestaltung über Harmonie oder Disharmonie,
über Glück und Wohlfühlen entscheidet. Vastu lehrt, wie der
Mensch an dieser Schnittstelle in Einklang mit den herrschenden
Kräften leben kann und dennoch seine Umgebung kreativ gestalten
kann.
Sich den
guten Energieströmen öffnen und negative Energien blockieren
Energieströme kommen
hauptsächlich aus der Nordostecke. Grundstück und Haus werden
so geplant, daß die vorteilhafte Nordost- und Ostsonne maximal
genutzt werden und die weniger vorteilhafte Süd- und
Südwestsonne einen minimalen Einfluß hat. Das hat viele Regeln
zur Folge:
- Ein idealer Baugrund ist ein Hang, der
nach Nordost abfällt und zu den ungünstigeren
Richtungen West und Süd ansteigt.
- Das Bauwerk sollte nach Westen und
Süden hin höher sein und eine Art Schutzwall bilden,
während die Nordseite und die Ostseite niedriger sein
soll, um das Anwesen in diese Richtung zu öffnen. Die
höchste Ecke ist die im Südwesten, gefolgt von Südost,
niedriger ist die Nordwestecke, am niedrigsten ist die
Nordostecke eines idealen Hauses.
- Aus dem selben Grund sollten sich die
Öffnungen eines Hauses möglichst nach Norden und Osten
hin orientieren und weniger nach Süden und Westen.
- Im Norden und Osten sollten möglichst
keine Hindernisse den Fluß der Energieströme behindern.
- Im Süden sollten hohe, abschirmende
und schattenspendende Bäume gepflanzt werden.
- Grenzmauern solltem im Süden und
Westen dicker und höher sein als im Norden und Osten.
Grundstücksbebauung:
- Das Dreieck SW-SE-NW wird mit dem Mond
assoziiert, das Dreieck NE-NW-SE mit der Sonne. Ersteres
sollte massiver und höher bebaut sein, letzteres
leichter und lichter.
- Das Hauptgebäude kommt am besten in
den Südwest-Quadranten des Grundstücks.
- Im Süden und im Westen sollte
möglichst wenig Platz zwischen Haus und Grenze gelassen
werden (60-90cm), dagegen kann man im Norden und Osten
Freifläche lassen oder Platz für Garten oder Terrasse
lassen.
- Man kann auch im Südwesten des
Grundstücks eine hohe Säule errichten, die das Haus
überragt und damit den höchsten Punkt der Bebauung
darstellt. Ihre Funktion wäre die Unterdrückung aller
negativer Energien, die aus dem Südwesten heranfluten.
Eine Bekrönung mit Garuda würde gut passen.
- Der Nordteil des Grundstückes sollte
als Sitz des weiblichen Prinzipes genausowenig wie der
Osten als Sitz des männlichen Prinzipes nicht zugebaut
werden, um eine Einschränkung derselben zu vermeiden.
Magnetische
Einflüsse:
- Die Linien des Erdmagnetfeldes
verlaufen in Süd-Nord-Richtung, wichtige Achsen des
Hauses und des Grundstückes sollten mit ihnen
zusammenfallen.
- Schlafzimmer: Der Körper gilt als
Magnet, der sich wie eine Kompaßnadel in
Süd-Nord-Richtung orientiert. Der Kopf gilt dabei als
der magnetische Nordpol des Körpers, die Füße als der
menschliche Südpol. Eine Lage mit dem Kopf im Norden
beim Schlafen würde durch Abstoßungsenergien einen
ungünstigen Einfluß haben, Kopf nach Süden dagegen
gilt als harmonisch, Kopf nach Osten begünstigt den
spirituellen Fortschritt, ist er doch dem Neuanfang
zugewandt. Dementsprechend sollten Schlafzimmer
ausgerichtet sein.
Grundstückszuschnitt:
- Ideal ist ein Quadrat.
- Die Seitenkanten des Grundrisses
sollten in NS- oder WO-Richtung verlaufen, also parallel
zu den Haupthimmelsrichtungen.
- Wenn das Grundstück unregelmäßig
geschnitten ist: Grundstücke mit einer längeren
Ost-West-Extension werden als günstiger empfunden als
solche, die sich mehr in Nord-Süd-Richtung ertsrecken.
- Bei Grundstücken mit
nichtrechteckigem Grundriß ist es besser, wenn die
SW-NO-Diagonale länger ist als die SO-NW-Diagonale.
- Eine betonte NO-Spitze wird als
günstig angesehen, wenn das Grundstück schon
unregelmäßig ist.
Maß und
Proportion:
- Das Quadrat gilt als die vollkommene
Form, ob für das Haus oder für das Grundstück.
- Auch Rechtecke sind gut. Dabei ist das
Verhältnis der Seiten wichtig:
- Länge : Breite = 1.25:
Stärke, Reichtum
- Länge : Breite = 1.5: Freude
- Länge : Breite = 1.75:
Gesundheit
- Länge : Breite = 2:
Großartigkeit
- Länge : Breite > 2 ist
ungünstig.
- Unregelmäßige oder geschwungene
Grundrisse (Waldorf-Architektur!), Dreiecke, Rauten,
Ovale, unregelmäßige Rundungen etc. widersprechen den
Prinzipien des Vastu.
Position
des Eingangs:
- Morgensonne gilt als besonders rein
und wohltuend. Deshalb liegt der Eingang - wenn möglich
- bevorzugt nach Osten. Osten ist die beste aller
Himmelsrichtungen, die Ostrichtung steht für Stärke,
Neubeginn (Sonnenaufgang!) und Gesundheit.
- Ein Eingang ist aber auch gut im
Norden möglich, denn dann liegt er stets im Schatten,
außerdem erlaubt er Gott Kubera, Wohlstand in das Haus
zu bringen.
- Zwei Eingänge sind gut, damit
negative Kräfte, die durch einen Eingang hineinkommen,
ganz schnell wieder durch den zweiten Eingang
hinauskönnen.
- Wenn man durch die Umstände gezwungen
ist, einen Eingang im Süden zu haben (Starßenanbindung
etc.), so sollte zusätzlich unbedingt noch ein Eingang
im Norden oder Osten gebaut werden.
Zuordnung
der Funktionen im Haus:
Grundlage ist hier
ein 3x3-Mandala mit Brahma in der Mitte und wichtigen vedischen
Göttern in den acht umliegenden Feldern. Jedem Feld und damit
jeder Richtung wird damit eine Qualität gegeben, die nach
angemessener Nutzung ruft.
- Das Zentrum bleibt am besten frei von
Bebauung oder Verwendung. Denn hier herrscht Brahma, hier
waltet seine schöpferische Energie. Freier Zutritt zu
Licht und Luft ist für freie Entfaltung seiner
schöpferischen Kräfte gut.
- Agni, dem Feuergott, ist der Südosten
zugeteilt. Deshalb liegt dort am besten die Küche, und
in der Küche liegt der Herd am besten auch in der
Südostecke. Dann können die Köche beim Zubereiten der
Speisen auch nach Osten blicken.
- Der Nordosten gilt als sehr rein,
deshalb sollten Wasserspeicher, Wasserbehälter etc. für
Trinkwasser am besten im Nordosten aufbewahrt werden. Am
allerbesten wird ein Brunnen in der Nordostecke nördlich
der Grundstücksdiagonalen angelegt.
- Toiletten haben im Nordosten nichts zu
suchen.
- In der Küche oder im Bad sollten die
Wasserinstallationen möglichst im reinen Nordosten
angebracht sein. Denn der Nordosten wird von Ishan, Gott
selbst, beherrscht und wird damit zur bevorzugtesten
Himmelsrichtung überhaupt.
- Innerhalb der Küche lagert man die
Vorräte am besten im Südwesten, der Eßtisch steht am
besten im Westen.
- Haustempel oder Hausaltar sollten sich
aus diesem Grund auch im Nordosten befinden.
- Weil im Westen die Sonne wieder
untergeht, hat diese Richtung die Qualität der Ruhe,
ideal für die Positionierung von Arbeitszimmer,
Bibliothek, Schlafzimmer (Kinder), für Orte der Ruhe und
der Kreativität.
- Der Süden wird von Yama beherrscht,
dem Todesgott. Deshab gilt der Süden als ungünstiger
Ausgangspunkt für Unternehmungen, Projekte, Pläne oder
Vorhaben. Am besten legt man dort die Lagerräume an,
eventuell auch Schlafzimmer (Erwachsene).
- Der Nordwesten ist Vayu zugeordnet,
dem Gott der Winde, mit dem Bewegung assoziiert wird.
Diese Himmelsrichtung eignet sich damit zum Unterstellen
von Fahrzeugen aller Art. Gästezimmer und Ställe
würden ebenfalls gut in diese Ecke passen, weil auch sie
das Prinzip der Bewegung beinhalten.
- Bäder und Toiletten passen in den
Nordwesten des Gebäudes.
- Der Norden wird vom Gott des
Wohlstandes, Kubera, beherrscht. Hier kann man gut die
Wertgegenstände aufbewahren.
- Der Nordwesten steht in Beziehung zu
Gastfreundschaft, Gästezimmer sind hier gut
untergebracht.
- Der Südwesten ist die negativste und
gefährdetste Ecke des Anwesens. Deshalb sollte er zum
einen fest und hoch bebaut werden, zum andern sollten
sich dort nie Wasserinstallationen befinden, auch sollte
man dort keine Handlungen ausführen, die von Erfolg
begleitet sein sollen. Ideal sind hier Lagerräume
angesiedelt.
- Veranda oder Balkon blicken
idealerweise nach Osten, um sich dem Einfluß der
Morgensonne zu öffnen.
Vastu (1) -
Mandalas und der Tempel-Plan
Vastu
(2) - Das Mandala und die Stadt: Der Plan von Jaipur
Vastu (3)
- Praktische Regeln für die Architektur
Andere Essays über Indien lesen
Andere Länderessays lesen
Home
©
Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
Impressum