Bernhard Peter
Die
Tempeltürme von Orissa
Der
Rajarani-Tempel von Bhubaneshvar
Der Rajarani-Tempel stammt aus dem 11. Jh. AD und stellt eine weitere Variation des Orissa-Types dar. In diesem Tempel spiegelt sich der Einfluß zentralindischer Architektur. Insbesondere der Shikhara ist anders gestaltet. Sein Unterbau ist nicht mehr ein in Achse liegendes Quadrat, sondern ein um 45° gedrehtes Quadrat, also in Längsachse gesehen eine Raute. Auch im Innern ist die Wand der Cella durch viele Vorsprünge aufgelöst, die im wesentlichen der Außenlinie folgen. Das heißt, daß es mit der bisherigen Schlichtheit der Cella im Inneren vorbei ist und die komplexe Wandgestaltung und Plastizität des Außenbereiches auch im Innern Einzug hält.
Weit augenfälliger ist aber noch eine andere Besonderheit: Der Shikhara ist mit flankierenden Türmchen (Paga) versehen, drei an jeder Rautenseite, so daß er insgesamt eher wie ein Bananenbündel als wie ein Turm aussieht. Die Miniatur-Reproduktionen des Shikara werden auch "Angashikhara" genannt. Dadurch, daß die kleinen Türmchen jeweils mit einem schmalen Grat vom Hauptturm abgesetzt sind, kaschieren sie dessen Schwere im Zentrum, runden das Äußere und betonen die Vertikale zusätzlich.
Die Anordnung der Figuren auf der Außenseite folgt dem klassischen Vastu-Mandala: Acht Dikapalas bzw. Lokapalas (Wächter der Himmelsrichtungen) wachen ringsum:
Die Versammlungshalle ist von einem dreizehnstufigen Pyramidendach gedeckt. Insgesamt bilden beide Baueinheiten, die Versammlungshalle und der Turm, zwei selbständige und konträre Baueinheiten. Hier der Shikhara, schlank und leicht wie nie zuvor wirkend, himmelstrebend, aufgelockert, überreich verziert, mit zwei umlaufenden Relieffriesen mit Götterfiguren, dort die breite und gedrungene Halle, deren Dach nur lastende Schwere vermittelt und deren Wände von der warmen Schlichtheit nackten Sandsteines leben. Überleitungslos nur mit einem belanglosen Korridor nebeneinandergesetzt. Hier die sanfte und doch dynamische Krümmung des Shikhara, dort die kantigen Linien der Pyramide aus abgefasten Steinlagen mit tiefen Einkehlungen dazwischen. Was vermittelt dennoch den Eindruck vollkommener Entsprechung beider Baukörper und tiefer Harmonie? Zum einen ist das sicher die Tatsache, daß sie nicht irgendwie und zufällig gegensätzlich sind, sondern mit Absicht jeweils genau das haben, was der andere Teil nicht hat. Das Auge ist überfrachtet von der Ornamentik und wandert wieder zur Ruhe, der Anblick der nackten Steinflächen wiederum leert die Vorstellung und schafft Platz für das Leben der himmlischen Wesen in unserer Imagination, angeregt von den Reliefs. So wandern Auge und Seele hin und her zwischen Fülle und Schlichtheit, zwischen Erdenschwere und Himmelsstreben. Shikhara und Versammlungshalle, so gegensätzlich sie sind, gehören zusammen wie Einatmen und Ausatmen, wie Systole und Diastole.
Weiterhin macht die Geometrie des Grundrisses deutlich, daß beide Baukörper zusammengehören, daß sie zwei Extreme des selben Prinzipes darstellen. Der gesamte Grundriß läßt sich aus Quadraten ableiten. Wir haben eine doppelt keuzförmige Achsialiät (gelbe Linien), dazu zwei Bereiche konzentrischer Quadrate nach Mandala-Art (rote Linien). Der einzige Unterschied ist, daß die Struktur des Shikhara um 45° gegenüber der des Jagamohan verdreht ist.
Und doch bilden sie eine Einheit, denn das Quadrat des Shikhara berührt mit seiner Spitze das des Versammlungsraumes, und die Quadrate (Padas) beider Strukturen sind von gleicher Größe. Der Jagamohan basiert auf einer Struktur von 5 x 5 Padas (kleine Quadrate, modulare Einheit). Eine Pada-Breite wird von der Wandstärke aufgebraucht; der Innenraum mißt 3 x 3 Padas. Der Shikhara-Unterbau folgt einem 4 x 4 - Quadrat, die Garbhagriha nimmt 2 x 2 Padas ein. Das äußerste Quadrat geht durch die Mittelpunkte der flankierenden Türmchen (Paga). Und alle Pagas sind so positioniert, daß ihre Mittelpunkte auf den Pada-Grenzen zu liegen kommen. Diese Geometrie macht klar, warum das Auge die Strukturen, so unterschiedlich sie sind, dennoch als zusammen passend und zusammengehörig empfindet.
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Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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