Bernhard Peter
Die Tempeltürme von Orissa
Der Surya-Tempel von Konarak

Vorläufiger Endpunkt einer faszinierenden Entwicklung ist der Surya-Tempel in Konarak, direkt am Golf von Bengalen gelegen, dem Sonnengott Surya geweiht. Der Tempel ist auch als "Schwarze Pagode" bekannt. Der Name Konarak setzt sich aus zwei Bezeichnungen für bestimmte Sonnenpositionen zusammen. Dieser Tempel wurde um 1240 unter Narasimha I (1238-1264) aus der Ganga-Dynastie errichtet und ist einer der größten Kultstätten des Hinduismus gewesen. Gewesen, weil er heute nicht mehr zur Gänze erhalten ist. Der weiche und sandige Beugrund direkt am Meer wurde dem Bau zum Verhängnis; der große Shikhara versank im ungeeigneten Baugrund und stürzte schließlich in der Mitte des 19. Jh. AD ein. Mehr schlecht als recht erhalten ist der Jagamohan; der separat gelegene Tanzsaal ist dagegen nur noch eine Ruine. Der weitläufige Komplex war noch von einer Umfassungsmauer mit Gopurams und Eckbauten umgeben. Der Jagamohan ist äußerst massiv gebaut. Und dennoch ist das Gebäude nicht sicher, sowohl wegen der ungeheuren Last des Steindaches (trotz der vier Pfeiler im Innern) als auch wegen des unsicheren Baugrundes. Die steinerne Pyramide des Jagamohan ist rhythmisch in drei Zonen horizontaler Plattenlagen gegliedert, jeweils getrennt durch eine etwas höhere Stufe. Das Dach ist im Grundriß an jeder Seite mehrfach gestuft, denn beide, Shikhara und Jagamohan, wurden im Pancaratha-Stil erbaut (5 Vorsprünge).

Und trotz seines ruinösen Zustandes ist der Surya-Tempel eines der großartigsten Heiligtümer Indiens, und das aus mehreren Gründen:

Schiere Größe: Insgesamt vermutet man eine Höhe von ca. 70 - 75 (!) m für den Shikhara. Der Jagamohan ist mit ca. 40 (!) m Höhe ebenfalls einer der größten, seine Seitenlänge beträgt ca. 35 m und die Cella ist ca. 20 m breit. Der Bau hat ohne Dach eine Höhe von 9 m. Er wird vom größten falschen Gewölbe Indiens überspannt.

Architektonisches Konzept: Hier wird das additive Prinzip der Bhubaneshvar-Tempel verlassen. Shikhara und Jagamohan verschmelzen stärker architektonisch. Beim näheren Hinsehen fällt auf, daß der verbindende Gang zwischen beiden Bauteilen außen nicht in Erscheinung tritt, daß die beiden Bauteile enger aneinandergerückt sind; der relative Abstand ist geringer als bei den Vorgängerbauten. Shikhara und Jagamohan bilden stärker eine Einheit als in allen bisherigen Beispielen der Tempel von Orissa. Umgekehrt ist die dritte Baueinheit, ein separater Tanzsaal (Nat Mandir) weiter von den beiden anderen Elementen weggerückt: Der Nat Mandir befindet sich noch nicht einmal auf der selben Plattform, sondern ist auf einer separaten Plattform mit Treppen an jeder Seite in Richtung Osten errichtet worden, wo heute auf einem hohen Sockel, der mit zahllosen Reliefs geschmückt ist, noch die Pfeiler des ansonsten verfallenen Saales stehen. Zwei Einheiten rücken näher zusammen, die dritte wird weggerückt - insgesamt wird so aus eher langweiliger Reihung dynamische Spannung. Die Opferhalle ist ebenfalls als eigenständiges Gebäude mit einer eigenen Plattform im Süden des Tanzsaales zu finden, eine losgelöste Einheit, rechtwinklig von der Hauptachse weggeknickt.

Schmuck und Symbolik: Die eigentliche Besonderheit, wegen der der Sonnentempel so berühmt ist, betrifft aber weniger die reine Architektur, sondern den Bauschmuck. Die Außenwände des Sockels sind überreich mit Reliefs verziert, vor allem mit insgesamt 24 großen Rädern (ca. 3 m Durchmesser) mit feinst ornamentierten Naben und Speichen. Die zugehörigen Pferde finden sich auf den Wangen der Treppen als Hochrelief. Vier Pferdepaare und die Räder bilden ein achtspanniges Gefährt. Dadurch wird der ganze Tempel zum gigantischen Prozessionswagen. Das kann vordergründig ein ganz normaler Prozessionswagen sein, der auch heute noch die Götter den Menschen nahebringt. In Zusammenhang mit dem Sonnenkult (Surya-Kult) wird er aber auch zum Sonnenwagen, der die Sonne im Tagesverlauf über den Himmel zieht. Damit erhalten die Räder und Speichen ebenfalls eine übergeordnete Bedeutung: Es sind jeweils 12 Hauptspeichen und 12 dünnere Nebenspeichen zu sehen. 24 sind die Stunden des Tages, 12 Tagesstunden und 12 Nachtstunden, 12 sind ferner die Monate des Jahres im Orissa-Sonnenkalender. In der Literatur wird behauptet, daß die Räder auch als Sonnenuhr dienten, dem kann ich nicht folgen, weil wir keine ebene Projektionsfläche haben, kein ausreichend schattenwerfendes Gnomon und weil keine Ausrichtung auf den Himmelsnordpol gegeben ist - es kann nicht funktionieren.

Der gezeigte Grundriß ist eine Rekonstruktion. Insbesondere der hier gezeichnete Shikhara ist heute nicht mehr vorhanden. Er muß mit seinen drei angesetzten Neben-Heiligtümern, deren Nischen über 3 m hohe Surya-Statuen enthielten, einer der interessantesten und großartigsten Shikharas überhaupt gewesen sein.

Wenn man ein Raster geeigneter Größe über den Grundriß legt, werden viele Bezüge klarer: Grundlage ist ein doppelt kreuzförmiger Grundriß. Die Garbhagriha (Cella) basiert wie die Shikhara-Anbauten auf einem 3 x 3 - Quadrat, der Versammlungssall auf 5 x 5 Padas, wobei die Stützen ein Quadrat von 3 x 3 Padas einschließen. Das System der Padas gleicher Größe läßt sich nach außen verlängern, so daß selbst die Treppen und Absätze innerhalb der Grenzen zu liegen kommen und den gleichen Rhythmus nach außen tragen. Die Shikhara-Anbauten trennt ein Abstand von 2 Padas von der Garbhagriha. So kommen viele der in diesem Gebäude verborgenen Bezüge und Harmonien besser zum Ausdruck.

Tempel in Orissa (1) - Einführung
Tempel in Orissa (2) - Stilmerkmale und Entwicklung
Tempel in Orissa (3) - Lingaraja-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (4) - Brahmeshvara-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (5) - Rajarani-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (6) - Surya-Tempel in Konarak
Links, Quellen und Literatur zur indischen Architektur

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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