Bernhard Peter
Allgemeine Stilmerkmale der Tempel von Orissa

Hier sollen die Rekha-Tempel von Orissa beschrieben werden. Rekha-Tempel sind Tempel ("Deul") mit quadratischer Garbhagriha (Cella).

Augenfälligstes Merkmal dieses Stiles ist die additive Bauweise. Die für den Tempel notwendigen Raumelemente werden wie selbständige Kuben aneinander gereiht und mit unscheinbaren kurzen Korridoren (Antarala) verbunden.

Jeder Tempel ("Deul") besteht mindestens aus zwei Elementen:

Weitere Einheiten sind möglich, aber nicht notwendig. Bei Verwendung mehrerer Raumeinheiten ist die Aufteilung der Funktionen in Versammlungshalle, Tanzhalle und Opferhalle möglich, sodaß man insgesamt vier Raum-Kompartimente hat.

Die Tempel sind stets achsialsymmetrisch angelegt.

Jeder Raum ist für sich selbst eine eigenständige Einheit, als selbständig möglicher Zentralbau mit in sich geschlossenem Teilgrundriß entworfen und hat eine von den anderen Raumelementen deutlich abgesetzte Dachkonstruktion. Diese Trennung wird lange beibehalten. Erst beim Sonnentempel von Konarak (1240 AD) wird das additive Prinzip verlassen.

Die Versammlungshalle ist zumeist im Grundriß größer angelegt als der Unterbau des Shikhara (Turmes). Im Gegensatz zu diesem ist sie aber niedriger. Bei frühen Tempeln (z. B. Parashurameshvara-Tempel in Bhubaneshvar, Ende 7. Jh. AD) ist sie noch rechteckig, in der Blütezeit des Stiles ist sie prinzipiell quadratisch angelegt.

Höchste Untereinheit eines Tempels ist der Turm (Shikhara), er wird zum Kennzeichen des Nagara-Stiles. In Orissa entwickelt sich die typische Form mit konvex verlaufenden Linien, die in immer stärkerer Krümmung zur Spitze hin zulaufen und dem Turm durch die eleganten Linien seine Schwere nehmen. Diese besondere Form wird in Orissa auch "Rekha" bzw. "Rekha Deul" genannt. Der Ausdruck "Rekha" kennzeichnet die gewölbten Fassadenprofile des Turmes.

Die Unterbauten (Bada) werden durch viele horizontale Linien, Simse und Vorsprünge gegliedert. Die Fassade selbst ist aber nicht flächig, sondern durch Vorsprünge (Ratha) gegliedert, so daß die Linienführung ein komplexes Muster aus vertikalen und horizontalen Linien bildet.

In der Regel entstehen durch Vor- und Rücksprünge jeweils drei vertikal wie eine Wandvorlage herausstehende Wandabschnitte (Pagas), die den Unterbau des Turmes vertikal strukturieren. Diese Bauweise wird "Triratha" genannt - "Drei Vorsprünge". Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten:

Der Shikhara dagegen wird durch vertikale Linien akzentuiert. Senkrechte Einschnitte betonen die Vertikale, das können einfache Kerben sein, oder Rippen oder Wülste. Im Extremfall werden die Wülste so tief hinterschnitten, daß sie fast schon selbständige Begleit-Türmchen darstellen (Paga). Sie folgen dem Hauptturm ringsum, stützen und schieben ihn zugleich optisch in die Höhe.

Im Innern helfen mehrere leere Räume (Ratnamuda) mit flachen Decken, das Gewicht des Turmes aufzufangen und auf die Außenwände zu verteilen.

Typisch ist der überreiche Schmuck des Turmes (Shikhara) mit Skulpturen und Reliefs. Weiterer Fassaden-Schmuck sind Ziergiebel in Kudu-Form (Hufeisenbogen), Gavakshas ("Fenster der Sonnenstrahlen"). Fenster können mit gitterartig durchbrochenen Steinplatten (Jali) ausgefüllt sein.

Der Versammlungsaal selbst ist eher schlicht im Innern, ein starker Kontrast zu der reichen Bauplastik der Außenflächen des Turmes.

Die Versammlungshalle (Mandapa, in Orissa "Jagamohan" oder auch "Pitha Deul" genannt) ist auch im Dachbereich von horizontaler Gliederung bestimmt. In der Frühzeit (z. B. Parashurameshvara-Tempel in Bhubaneshvar, Ende 7. Jh. AD, oder der Vaithal-Tempel) hat die Jagamohan nur ein flaches Steindach aus zwei Plattenschichten mit einer Reihe von kleinen Luft-/Licht-Öffnungen zwischen beiden Ebenen des Stufendaches. In der Folgezeit werden die Stufen mehr (typischerweise elf), die Öffnungen verschwinden. Das massive steinerne Dach (Pidha, Pitha) in seiner typischen Form ist eine horizontal gefugte Pyramide aus vielen vorkragenden Steinplattenschichten (Pirha = Plattenschicht). Ein echtes Gewölbe gibt es nicht, der Raum wird durch Kragsteine im Stile eines falschen Gewölbes geschlossen.

Typisch für diesen Stil ist auch der Dachaufsatz des Turmes (Shikhara): Ein breites, kissenartiges Element (Amalaka) bildet den Abschluß des Turmes, häufig gerippt. Darauf steht noch eine Vase, die symbolisch ein Gefäß für Amrita darstellen, den Nektar der Unsterblichkeit. Eine solcher Dachaufsatz kann auch die anderen Gebäudeeinheiten krönen, aber das größte Steinkissen ist immer auf dem Shikhara. Im Einzelnen besteht der obere Bereich (Mastaka) aus:

Das typische Material der Tempel ist ein heller, gelblicher Sandstein.

Die Cella, die Garbhagriha ist eine relativ kleine, fensterlose und daher düstere Kammer und enthält meist einen Linga, die meisten dieser Tempel waren Shiva geweiht.

Fast alle Tempel dieses Stiles sind in Ost-West-Achse ausgerichtet, d. h. der Eingang befindet sich im Osten, der Turm im Westen.

Freistehende Toranas (Portale, Ehrentore) vor dem Zugang zum Tempel sind üblich. In der Regel stehen sie frei und sind von einem schweren Steinbogen überspannte Doppelsäulen. Dabei ist es kein gewölbter Bogen mit Schlußstein, sondern ein falscher Bogen, der aus Kragsteinen gemeißelt wurde. Die Fugen verlaufen horizontal, nicht radial.

Typisch ist auch die Existenz eines großen rechteckigen Wasserbeckens in Tempelnähe, von Stufen und Treppen gesäumt.

Typische Beispiele für diesen Stil:

Neben dem Rekha-Deul (hier beschrieben) gibt es noch einen zweiten Grundtyp in Orissa für einen Tempel, den Khakhara-Deul. Khakhara bedeutet "Gurke" und beschreibt anschaulich das Tonnendach über dem rechteckig angelegten Tempel, welches an eine halbierte Gurke erinnert. Die Cella ist rechteckig. Diesen Tempeltyp findet man bei den Shakti-Tempeln (siehe Shaktismus). Beispiel: Gauri-Tempel in Bhubaneshvar.

Tempel in Orissa (1) - Einführung
Tempel in Orissa (2) - Stilmerkmale und Entwicklung
Tempel in Orissa (3) - Lingaraja-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (4) - Brahmeshvara-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (5) - Rajarani-Tempel in Bhubaneshvar
Tempel in Orissa (6) - Surya-Tempel in Konarak
Links, Quellen und Literatur zur indischen Architektur

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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