Bernhard Peter
Die Kuh - Heilige und Entsorgungsbeauftragte

Töten verboten
Indiens heilige Kühe – viel ist über sie schon geschrieben worden. Jeder Indienreisende kennt sie, wie sie mit stoischem Gleichmut dumm überall dort herumstehen, wo man gerade her will. Die heilige Kuh ist ein bekanntes Merkmal des indischen Hinduismus, aber nicht ein essentielles. Indiens heilige Kühe sind ein Alptraum für Autofahrer, insbesondere für Touristen mit Mietwagen. Eine heilige Kuh mit dem Auto anzufahren ist wohl das Schlimmste, was passieren könnte. Niemand darf heiligen Kühen etwas antun, sie gar schlachten und essen. Wer einer Kuh das Leben nimmt, hat nach hinduistischem Glauben einen Mord begangen. Man darf sie auch nicht anbinden oder einsperren. Kühe sind für Hindus extrem heilige Tiere, und natürlich käme auch kein Jain auf die Idee, in ihnen Nahrung zu sehen. Der Schutz der Kuh ist ein so wichtiges Anliegen des Hinduismus, daß sogar der Titel „Beschützer der Kuh“ vom Maharana von Udaipur geführt wurde.

Bemalte Hörner
Als hochgeachtetes Tier werden Kühe liebevoll bemalt, blaue Hörner oder rot-weiß in verwechselten Farben angestrichene Hörner, mit schwarzer Farbe aufgetragene Linien und Kreise zeugen von der Zuneigung der Inder zu ihren Kühen. Überhaupt werden in Indien Tiere gerne verziert. Elefanten bekommen farbige Ornamente auf Stirn und Rüsselansatz gemalt. Kamele werden mit schwarzen Ringen und Linien gezeichnet. Ringe um die Augen verändern den gesamten Gesichtsausdruck. Und die Krönung sind geometrische Muster, die den Kamelen mit dem Rasierer oder scharfen Messer ins kurze Fell rasiert werden. Die bemalten Hörner in verwechselten Farben erinnern jedenfalls an bemalte Helmzieren des europäischen Mittelalters.

Stetes Hindernis – eine geschlagene Heilige
Autofahrer, sonst rücksichtslos drängelnd und auf Millimeter Abstand fahrend, halten respektvoll Abstand, wenn mal wieder so eine gelangweilte Kuh wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Verkehr steht und mit leeren Augen in eine Richtung stiert, so als würde sie halb autistisch gar nicht den Gestank, das Lärmen und das Gewimmel um sie herum wahrnehmen. Kühe dürfen einfach alles. Nur wenn sie zu dämlich im Weg stehen, oder wenn sie sich hungrig einem Marktstand mit frischem Gemüse nähern wollen, gibt’s Stockhiebe oder Schläge mit der fachen Hand. Die Kuh – eine geschlagene Heilige.

Das Verhältnis der Inder zu Tieren allgemein
Der Hinduismus hat einen faszinierenden Umgang mit Tieren: Eigentlich gibt es keinen essentiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Beide sind beseelt, beide unterliegen dem Wiedergeburtssystem, beide werden je nach früheren guten oder schlechten Taten in Vergeltung derselben in ihre jetzige Daseinsform hineingeboren. Insofern kann es durchaus sein, daß die Seele, die jetzt in dieser mageren Kuh wohnt, früher einmal einem Mitmenschen sein Wesen verlieh. Man beachte auch die Übergangsmöglichkeiten zwischen Menschen, Göttern und Tieren in den alten Überlieferungen, nicht zuletzt sind einige Avatare Vishnus als Tier auf die Welt gekommen (z. B. Eber), und Tiere sind als Reittiere (Vahanas) feste Begleiter der Götter. Einige Götter sind halb Mensch, halb Tier (z. B. Ganesha), andere sind ganz Tier (z. B. der Affengott Hanuman). Keine andere Religion stellt auf solch religiöser Basis Mensch und Tier auf dieselbe Grundlage. Und genau das schafft die Basis für die Verehrung, deren Ziel praktisch jede Art von Tier werden kann, ob „nützlich“ wie die Kuh oder „gefährlich“ wie die Schlange oder „eklig“ wie die Ratte. Ein Rattentempel findet sich z. B. in Deshnoke, sogar Ameisen- und Termitenhügel können zu Wallfahrtsorten werden.

Früher war auch in Indien die Kuh ein Opfertier
Schon früh hatte das Rind eine Sonderstellung dadurch, daß ihr Besitz gleichzusetzen war mit Wohlstand. Deshalb war sie in der Frühzeit auch Opfertier des Brahmanentums. Die Kuh war „aghnya“ – „nichtzutöten, unantastbar“, was soviel hieß wie, daß sie zwar als Opfertier umgebracht wird, aber nicht wirklich getötet wird, sondern zu den Göttern eingeht. Erst später wuchs eine Opposition gegen die brahmanische Ordnung, in der das Rind eine zentrale Rolle als Opfertier spielte, heran. Dabei spielten auch die Reformreligionen, Buddhismus und Jainismus die sich beide gegen das Töten von Tieren wandten, eine wichtige Rolle. Das Verbot, Kühe als Opfertier zu töten, wurde später zu einem allgemeinen Tötungsverbot für Kühe. Zur Verehrung der Kuh kam es erst viel später, und erst ab dem 11. Jh. wurde der Umgang mit der Kuh Symbol einer Abgrenzung gegen den Islam.

Krishna und die Kuh
Aus mythologischer Sicht hat die Kuh ihre Heiligkeit dem Gott Krishna zu verdanken. Nach seiner Geburt wurde Krishna zum Schutz vor Verfolgung in die Obhut von Zieheltern gegeben, die Hirten waren. Krishna verbrachte in seiner Jugend als Hirtenjunge (Gopala) viel Zeit mit den Tieren. Mit seinen Zieheltern, den Gopis (Milchmädchen) und den Kühen wuchs er auf und wurde von ihnen ernährt. Dadurch erreichte die Kuh den Status einer Mutter, die es zu verehren gilt. Die Bhagavatapurana ist die heilige Schrift, die Krishnas Lebensgeschichte überliefert, und in ihr spielt die Kuh eine wichtige Rolle.

Gleichsetzung weiblicher Gottheiten mit der Kuh
Die Kuh ist ein Fruchtbarkeitssymbol, und als solches wurde sie häufig mit weiblichen Gottheiten gleichgesetzt, z. B. wird in der Rigveda Usha, die Göttin der Morgenröte, als Mutter der Kühe verehrt. Die vedische Göttin Aditi wird ebenfalls als Kuh gesehen, deren Milch der Göttertrank Soma ist. Als Göttin Vac gibt die Kuh den Sehern (Rishis) ihre Visionen, den Menschen ihre Sprache und den Priestern ihre Riten. Die friedlich grasende Kuh wurde zum Symbol einer nährenden Muttergottheit – als Kontrast zu den zerstörerischen und gefährlichen Aspekten Kali und Durga. Auch viele andere der hinduistischen Schriften bezeichnen die Kuh als Göttin, besonders häufig ist sie als Kamadhenu, als Wunschkuh, die Erfüllerin der Wünsche.

Freiheit – positiv wie negativ
Indiens Kühe sind frei, in jeder Hinsicht. Frei, alles zu tun, was sie wollen. Nie käme jemand auf die Idee, ihre Freiheit durch einen Zaun einzugrenzen. Auf der anderen Seite sind sie auch vollkommen frei, sich ihren Lebensunterhalt selber zusammenzusuchen.

Die Kuh – Indiens „Entsorgungsbeauftragte“
Von dieser Seite aus betrachtet sind Indiens Kühe „arme Säue“: Ihre Heiligkeit ist zwar Handlungsaufforderung, sie nett zu behandeln, doch ihre armselige Realität sieht anders aus. Ärmste vernachlässigte Kreaturen sind sie, die ihre Nahrung mühsam aus dem Exkrement menschlichen Lebens zusammensuchen müssen. Abends kommen Leute zum Melken und sammeln die Milch in großen Aluminiumkannen, die rechts und links am Moped befestigt sind. Woher die Kühe die Milch kriegen, ist diesen Melkern vollkommen egal. Weiden sucht man in Indiens Städten vergeblich. Und so stehen die Kühe meistens in irgendwelchen Müllhaufen herum und suchen sich das wenige Nahrhafte zwischen Plastik, Papier, Kartonagen und Styropor heraus. Eigentlich ein gut funktionierendes System: Der Müll wird an den Straßenrand auf Haufen gekippt. Die Kühe suchen sich zuerst das organische Material heraus: Obst- und Gemüse-Schalen, verdorbene Lebensmittel, Essensreste. Und wenn dann noch Hunger übrigbleibt, fischt man sich die Pappe aus dem Restmüll heraus und kaut sie. Und was übrigbleibt, ist ein undefinierbarer Haufen mit einem sehr hohen Plastikanteil, der dann und wann angezündet wird. Die Kühe stören sich nicht an den schwelenden und stinkenden Haufen und suchen weiter nach Eßbarem. Funktionierende Mülltrennung und Biomüllentsorgung! Wir sollten uns nicht allzusehr über diese Verhältnisse entsetzen, sondern einmal überlegen: Die ausschließliche Fütterung aller indischen Kühe mit Gras oder Silage etc. wäre für Indien unmöglich, weil der Bevölkerungsdruck groß ist und sehr wenig fruchtbare Flächen für den Anbau von Futtermitteln zur Verfügung stehen. Durch die Verknappung des verfügbaren Landes würden bald die Preise für pflanzliche Lebensmittel in für die meisten Menschen unerreichbare Höhen schnellen. Und in noch stärkerem Maße würde das gelten, wenn man Kühe für die Fleischerzeugung mit ausgewählten Futtermitteln fütterte - es käme im Gegenzug zu einer Verknappung und Verteuerung aller vegetarischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, mal abgesehen von den hohen Fleischpreisen.

Große Freude über eine Bananenschale
Indien kennt in der Regel keine öffentlichen Abfalleimer. Wenn man sich zum Mittagessen ein paar Bananen gekauft hat und nicht weiß, wohin mit den Schalen – einfach die nächste Kuh abwarten und ihr die Schalen vor die Hufe werfen. Sie wird den Tourist erstaunt anglotzen, womit sie diese Wohltat verdient hat und ihr Stück Pappe, an dem sie bis dahin lustlos gekaut hat, fallen lassen und sich mit größter Freude über diese neue Köstlichkeit hermachen. Biotonne und Mülltrennung? Gib’s der nächsten Kuh! Nach wenigen Tagen entwickelt man auch ein gewisses Geschick, Bananenschalen und andere organische Abfälle aus dem fahrenden Auto oder aus der Rikshaw heraus zielgenau vor den Füßen einer Kuh zu plazieren - und das im sicheren Bewußtsein, etwas Gutes zu tun. Und noch besser: Wenn man eine Kuh füttert, hat man eine heilige Handlung ausgeführt und kann sein Karma verbessern!

Pancagavya- die fünf segensreichen Produkte der Kuh
Die Kuh hat fünf für den Menschen segensreiche Produkte:

Alle fünf gelten als segensreiches Reinigungsmittel. Als Bestandteil der ayurvedischen Medizin werden sie verwendet, Götterstatuen werden damit besprengt. Ohne Ghee, Milch und Joghurt als Opfer kann keine hinduistische Puja (Gottesdienst) stattfinden.

Sind Indiens Kühe herrenlos?
Nein! Jede noch so verloren herumstehende Kuh hat einen Besitzer. Er muß ihr aus religiösen Gründen jedoch freien Auslauf lassen. Nur wenn es der Kuh genehm ist, kehrt sie in den Haushalt ihres Besitzers zurück. Sie darf ja nicht angebunden oder eingesperrt werden. Umgekehrt ist der Besitzer meistens heilfroh, wenn sich die Kuh selber ihre Nahrung sucht, denn er könnte ihr in den allermeisten Fällen kein Futter finanzieren.

Die Kuh – politisches Symbol
Die Kuh spielte früher eine wichtige Rolle in der Abgrenzung gegenüber dem Islam und seiner Kultur. Sie wurde zum Identifikationstier des hinduistischen Nationalismus und zum Symbol des Widerstandes gegen die britische Besatzungsmacht, die die Heiligkeit der Kuh nicht respektierte. Auch Gandhi bemühte das Bild der Mutterkuh für seine Vision einer freien und unabhängigen indischen Nation, so wurde die Kuh zum Träger der indischen Unabhängigkeit.

Schlangenkult in Indien
Die Kuh - Heilige und Entsorgungsbeauftragte
Die Reittiere der Götter
Hochgötter in Tiergestalt: Vishnu und seine Avatara
Halb Mensch, halb Elefant und Gott noch dazu: Ganesha

Andere Essays über Indien lesen
Andere Länderessays lesen
Home

© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
Impressum