Bernhard Peter
Die
Tempelstädte von Tamil Nadu
3.
Stilmerkmale
Lage der
Stadt:
- Meistens wird eine Tempelstadt in Flußnähe
gegründet, idealerweile auf einer Insel oder am (in
Strömungsrichtung) rechten Flußufer.
- Bevorzugt wird ein ebener
Bauplatz, weil man hier einen Idealplan
verwirklichen kann.
Struktur
der Stadt als Ganzes
- Die Stadtumrisse und die Tempelmauern
folgen einer quadratischen oder rechteckigen
Struktur. Mauern, Straßen und Wohnflächen knicken
rechtwinklig ab.
- Die Hauptachsen der Stadt sind im
wesentlichen an den Himmelsrichtungen
orientiert, vielfach findet sich aber eine Abweichung um
wenige Grade (Madurai z. B.
16° nach Norden verdreht). Srirangam weicht ebenfalls von der üblichen
Ostausrichtung ab, und zwar um genau 90°. Der Grund
dafür ist jeweils ungeklärt.
- Die Stadt besteht aus konzentrisch
angelegten Zonen. Im Innern der Stadt befindet sich der
Tempelbezirk, der wiederum aus weiteren konzentrischen
Zonen besteht. Um den Tempel liegen konzentrische
Wohnviertel und Straßenringe.
- Blocksystem: Nichts
wird dem Zufall überlassen - die Stadt ist ein
wohlgeordnetes Ganzes, wo den einzelnen Blocken jeweils
spezielle Funktionen zukommen.
- Diese durch Mauern voneinander
getrennten konzentrischen Zonen der Wohn- und
Geschäftsstadt rings um den Tempelkomplex spiegeln die Gesellschaftsstruktur
wieder. Innen wohnen die Brahmanen, am nächsten an der
Tempelmauer, mit relativ großzügigen Parzellen, nach
außen kommen der sozialen Hierarchie entsprechend die
anderen Kasten. Der Zuschnitt der Parzellen (Größe und
Regelmäßigkeit) spiegelt die soziale Position wieder.
Das Bild ist dem unserer Städte entgegengesetzt: Sind
wir gewohnt, daß die innersten Bezirke einer gewachsenen
Stadt die kleinsten Parzellen, die beengtesten
Wohnverhältnisse für die ärmeren
Bevölkerungsschichten bereithält, ist es hier
umgekehrt.
- Falls reliefbedingte oder andere
Abweichungen im Stadtgrundriß Änderungen notwendig
machen, weichen höchstens die äußeren Viertel von der
geometrischen Regelmäßigkeit ab. Je weiter man nach
innen zum Herzstück der Stadt, dem Tempel, und zum
Herzstück des Tempels, dem Hauptschrein kommt, desto
strenger wird die Regelmäßigkeit und Geometrie
eingehalten.
- Interessant ist ein Detail der
Straßenverläufe: Die inneren Zonen der Stadt besitzen
nicht nur eine quadratische oder rechteckige Ringstraße,
sondern in den Ecken jeweils eine Verlängerung, die als
Sackgasse bis zur Mauer führt. Charakteristischerweise
gibt es in jeder Ecke eine solche blinde
Sackgasse, aber nur eine, und zwar so
angeordnet, daß man nur bei Umrundung im Uhrzeigersinn
in sie gerade hineinläuft. Was ist Sinn und Zweck dieser
Eigenart? Südindien feiert seine Tempelfeste mit
Wagenfesten, Wagenumzügen durch die Stadt. Diese Wagen
sind groß und schwer und werden von vielen Helfern mit
langen Seilen gezogen. An den scharfen Ecken muß der
Wagen wenden. Das geht nicht, indem die Menschen in die
Kurve eindrehen und das weiter hinten geschleppte
Gefährt die nächstbeste Hausecke mitnimmt, sondern
indem die ziehenden Helfer erst gerade in die Blindgasse
hineinlaufen und den Wagen richtig in die Ecke des
Straßenquadrates positionieren. Dann laufen die Helfer
zurück und spannen die Seile in die neue Richtung,
worauf der Wagen in der Ecke dreht und die neue Richtung
nimmt. An der nächsten Ecke wiederholt sich das
Spielchen. Das erklärt auch, warum die Blindgassen immer
nur in einer Richtung vorhanden sind, denn der Umzug
findet im Uhrzeigersinn statt. Die Tempelstädte Tamil
Nadus haben 1-3 solcher Wagenstraßen.
Die Wagen sind bis zu 15 m hoch, entsprechend dürfen
Wagenstraßen nicht von elektrischen Leitungen oder
Telefonkabeln etc. überspannt werden.
- An wichtigen Punkten der Stadt stehen
Mandapas (Hallen), die zur Aufstellung von
Prozessionsgottheiten bei bestimmten Festen dienen.
Zweistöckige Pavillons (Ratha-Mandapa)
mit Freitreppe dienen der Aufbewahrung von Festwagen
(Ratha) und spielen eine wichtige Rolle beim Aufsetzen
der Götterbilder auf die Festwagen.
Gopurams
- Gopurams sind das weithin sichtbare Wahrzeichen
südindischer Tempelstädte. Das sind die massiven
mehrstöckigen Tortürme, die jeweils in der Mitte der
Seiten der einzelnen Prakramas (konzentrische Einheiten)
errichtet sind. Sie haben immer einen kubischen Unterbau
mit Mittelöffnung auf Bodenniveau, in die beschlagene
Holztüren eingepaßt sind, einen Turm mit allseits
trapezförmigem Umriß (bis zu 11 Stockwerke) und werden
bekrönt von einer halben Tonne als Gewölbe. Der Torweg
nimmt den kürzeren Weg durch den rechteckigen Grundriß.
Charakteristisch ist der überaus reiche
Skulpturenschmuck. Der Umriß des Turmes kann
trapezförmig bis leicht konkav eingezogen sein, nie
jedoch konvex wie bei den Tempeltürmen des Nordens (vgl.
Orissa z. B.). Die Stockwerke wiederholen jeweils in
verkleinertem Maßstab die konstruktiven Elemente des
darunterliegenden Stockwerkes.
- Die Bekrönung eines
Gopurams ist im Wesen eine halbe, querliegende Tonne mit
First in Längsachse. Die Giebel sind zu beiden Seiten
recht phantasievoll ausgeformt, es kann bis zu barock
anmutenden Variationen des alten Chaitya-Giebels gehen.
- Die Gopurams werden von außen
nach innen immer kleiner. Das ist ein
wesentlicher Unterschied zu europäischen
Stadterwartungen, wo die Höhe der repräsentativen
Gebäude nach innen zum Stadtkern hin zunimmt und
schließlich in den Kirchtürmen gipfelt. In den
südindischen Tempelstädten ist das zentrale Heiligtum
eher flach und tritt in der Silhouette fast nicht in
Erscheinung. Jede Tempelstadt hat einmal klein
angefangen, und der innerste Ring ist noch von
bescheidenen Dimensionen. Mit zunehmender Bedeutung als
Pilgerort o.ä. und zunehmendem Wachstum der Stadt und
ebensolchem Wohlstand werden die äußeren Ringe mit
ihren Gopurams immer aufwendiger, größer, höher,
kostbarer. Höhe der Gopurams und soziale Schichtung bzw.
Heiligkeit des Viertels sind hier umgekehrt proportional.
In europäischen Städten drücken Größe und
Ausstattung eines Gebäudes seine Bedeutung aus, in den
südindischen Tempelstädten seine Lage im Mandala.
- Die Bereiche der Wohnstadt und
Geschäftsstadt sind aus allen vier Himmelsrichtungen
zugänglich. Die äußeren Tempelbereiche
ebenfalls. Doch der innere Tempelbereich hat nur
einen Zugang von Osten, der Hauptrichtung, in
die auch das Idol blickt.
- Gopurams sind keine Wehrbauten,
sondern Symbolbauten. Ein Gopuram ist
kein Stadttor mit den Funktionen, wie wir sie mit
Stadttoren des europäischen Wehrbaues assoziieren. Ein
Gopuram ist ein gebautes Symbol für Trennung und
Übergang.
- Gopurams sind die Stellen des
Übergangs. Betrachten wir den Tempel und die
Stadt als gigantisches Mandala: Die
Mauern sind die Trennlinien zwischen Bereichen
unterschiedlichen Charakters. Wir haben in der idealen
Beispielstadt (von oben) 7 Bereiche, die sich in ihrer
rituellen Reinheit, ihrem religiösen Stellenwert, in der
dort wohnenden Gesellschaftsschicht etc. unterscheiden.
Sie zu vermischen, käme einem Chaos gleich.
Dementsprechend wichtig sind die Stellen des Übergangs
zwischen den Zonen. Die Gopurams regeln Zutritt
und Ausschluß, regeln Reinheit und Zugehörigkeit,
trennen und verbinden zugleich. Auch für den
westlichen Touristen gibt es je nach Tempel weiter innen
oder weiter außen ein Tor, an dem sein Weg endet. Die
Gopurams werden damit zum Wächter einer Ordnung,
die letztendlich Abbild der Ordnung des Kosmos ist.
Entsprechend werden sie in der Architektur betont und im
Figurenschmuck mit allem ausgestattet, was das Pantheon
bietet. Die Bewegung und das Streben des Menschen ist
nach innen gerichtet - mit jedem Tor läßt er eine
niedrigere Stufe hinter sich und nähert sich immer mehr
dem Absoluten, wobei die Abschnitte dieses nicht nur
körperlich, sondern vor allem auch spirituell
zurückgelegten Pfades durch Gopurams markiert werden.
- Dieses Wechselspiel zwischen
Zugehörigkeit und Ausschluß spiegelt sich auch bei den Stadtfesten
wieder. Es ist wichtig, welche Wagenstraße von der
Prozession genommen wird. Die "umfahrenen" oder
"durchfahrenen" Viertel werden eingeschlossen,
die anderen ausgegrenzt. Normale Wagenprozessionen in
Madurai z. B. fahren durch eine der beiden inneren
Wagenstraßen, nur am Haupt-Stadtfest wird die dritte,
äußerste Wagenstraße genommen, diesmal alle Viertel
und die gesamte Gesellschaftspyramide einschließend,
entsprechend der Tatsache, daß hier die ganze Stadt
feiert und teilhat an dem rituellen Geschehen.
- Gleichzeitig symbolisieren Gopurams
auch den Weltenberg und damit den Sitz
der Götter, worüber der Skulpturenschmuck keinen
Zweifel läßt.
Struktur
der Tempelanlage im Innern der Stadt
- Der Tempel liegt im Zentrum der Stadt
bzw. des zugrundeliegenden Mandalas. Er setzt die
Geometrie fort. Auch er besteht aus konzentrischen
Einheiten (rechteckige Ringe, sog. Prakramas oder
Prakarams), deren Übergänge mit Gopurams markiert sind.
Meist sind es drei Ringe, es können aber auch mehr sein.
- Die gesamte Tempelanlage ist aus am Achsenkreuz
orientierten rechteckigen Grundelementen
komponiert. Die Achsen des Tempels setzen sich in den
Achsen der umliegenden Stadt fort.
- Im 1.
Prakrama (innerster
Mauerring) steht der Schrein der Hauptgottheit
(Vimana) mit der Cella (Mulasthana), dem Mittelpunkt, dem
Omphalos der Stadt. Um die Cella gibt es einen gedeckten
Gang, der die rituelle Umwandlung (Pradakshina) des
Kultbildes ermöglicht.
- Ein Tempel hat zwei Idole: Eine
steinerne Figur in der Cella und eine Figur, die aus
fünf Metallen hergestellt ist. Vergleiche die
Gruppierung von Tempeln zu Clustern von 5 (s.o.)!
- Im 2. Prakrama
(zweitinnerster Mauerring) liegen verschiedene Mandapas
(Tempelhallen), das Schatzhaus (Vahana Mandapa), die
Unterstände für die Fahrzeuge der Götter, die bei
Prozessionen und Wagenfesten zum Einsatz kommen. Dazu
gibt es ein Lager für die Trossen, mit denen die
schweren Wagen (Ratha) bei Tempelfesten bewegt werden,
des weiteren ein Mandapa für die Tempelelefanten,
Ställe für heilige Kühe, Vorratsspeicher und alle
möglichen sonstigen Bauten, die für das alltägliche
Leben im Tempel notwendig sind.
- Im 2. Prakrama steht auch ein Flaggenmast
für die Insignien der Götter. Er steht oft vor dem
Eingang zum innersten Prakrama.
- Im 3. Prakrama des
Tempels liegt eine der größten Tempelhallen, die
sogenannte "Tausendsäulenhalle"
oder "Halle der tausend Pfeiler".
- Im 3. Prakrama befindet sich der Tempelteich.
- Im 3. Prakrama befindet sich ein
eigener Tempel für die Shakti, für die weibliche Seite
des Kultes, für die Gefährtin der im
Haupttempel verehrten Gottheit.
- Charakteristisch sind ferner lange
hohe Korridore mit zahllosen
Granitpfeilern. Sie scheinen in alle Richtungen zu laufen
und spielen eine wichtige Rolle bei Prozessionen. Sie
sind deshalb so hoch, weil dabei auch Elefanten
mitgeführt werden.
- Die Skyline wird fast
nur von den Gopurams bestimmt. Die
Hallen, so ausgedehnt sie auch sind, und die Korridore
haben flache Dächer und ducken sich hinter den
Umfassungsmauern. Auch der zentrale Vimana ist eher
unscheinbar in der Silhouette, während die Gopurams
weithin sichtbares Wahrzeichen der Stadt
bzw. des Tempels sind.
Sonstiges:
- Beherrschendes Element der Architektur
ist das Wiederholungsprinzip im Sinne
einer Selbstähnlichkeit der Einheiten
unter Variation des Maßstabes, sei es
in den einzelnen Stadt-Ringen, in den einzelnen Etagen
eines Gopurams oder in der Vervielfachung der Elemente
des vertikalen Profiles von Mauern, Sockeln und Wänden.
Pure Lust an der Reihung und Wiederholung führt zu den
gigantischen 1000-Pfeiler-Hallen.
- Typisch ist das stetige Kleinerwerden
der Einheiten nach innen: Die Anlage wurde mit
den Hauptschreinen begonnen, die noch klein und
bescheiden sind. Nach und nach wurden dann Höfe, Hallen,
Torwege, Korridore, Vorratshäuser und weitere
Infrastruktur um die alten heiligtümer herumgebaut, in
jeder Bauphase prächtiger, größer und üppiger als in
der vorherigen. Aber dem religiösen sinne entspricht die
umgekehrte Richtung!
- Am Flußufer befinden sich
verschiedene Ghats, Stufenanlagen, die
zum Wasser hinabführen und für die Verrichtung
ritueller Pflichten vorgesehen sind. Es gibt
Verbrennungsplätze für Brahmanen, für Nicht-Brahmanen,
Wasch-Ghats für Pilger und Einwohner.
- Außerhalb der Stadt kann es einen Teppakulam
geben, ein von Stufen-Einfassungen umgebenen Teich, der
für eine nächtliche Seepartie der Gottheiten bei
Tempelfesten benutzt wird. In Srirangam befinden sich
sowohl beim Ranganatha-Tempel als auch beim östlich gelegenen
Jambukeshvara-Tempel der große rechteckige Teich im
Westen, wenige hundert Meter von der äußersten Mauer
weg. In Madurai liegt
der Teppakulam mehrere Kilometer in Richtung Ostsüdost
nahe des Flusses Vaigai.
- Polychromie: Im
16.-18. Jh. AD gewann die Farbe in der Architektur immer
mehr an Bedeutung. Die großen Gopurams und die Umgänge
im Tempelinneren sind sehr bunt bemalt, so daß es für
unser Empfinden schon kitschig wirkt. Aber hier gilt wie
so oft in der sakralen Kunst, daß Farbe nicht unsere
ästhetischen Vorstellungen und unsere optische
Harmoniesehnsucht befriedigen will, sondern die
Gläubigen in religiöse Ekstase versetzen soll. Und da
sind knallbunte Farben gerade recht als Mittel zum Zweck.
Die Fülle an Formen und Farben gibt der Götterwelt
einen höchst sinnlichen Ausdruck, der mehr
gefühlsmäßig als ästhetisch wahrzunehmen ist.
- Anmerkung: Verläßliche Angaben zu
Stockwerkhöhen und Maßen der Gopurams sind selten.
Manche Autoren zählen alle Stockwerke, andere nur die
mit Skulpturen, einige nehmen das Dach hinzu, andere
nicht, bei einigen indischen Autoren scheint die
Höhenangabe eher ein Bedeutungsmaßstab als eine reale
Größe zu sein. Ich gebe hier ungeprüfte Maße aus der
Literatur an, empfehle aber kritischen Naturen das
Selber-Nachmessen.
(1) - Die Tempelstädte von Tamil Nadu, eine
Einführung
- (2) - Cluster von Tempeln
(3) - Stilmerkmale der
Tempelstädte von Tamil Nadu
(4) - Srirangam: Eine Idealstadt - (4a)
- Srirangam: Grundriß in hoher Auflösung
(5) - Die Tempelstadt Madurai - (5a)
- Madurai: Grundriß in hoher Auflösung
(6) - der Nataraja-Tempel in
Chidambaram
- (6a) - Chidambaram: Grundriß in
hoher Auflösung
Links, Quellen und Literatur zur
indischen Architektur
Photos Madurai (1) - (2) - (3) - Photos Srirangam (1) - (2) (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos
Suchindram
- Photos Tiruvannamalai (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos Tirukalikundram - Photos Chidambaram (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos
Kanchipuram (1)
(Margret Foth, Fritz Niemann)
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