Bernhard Peter
Die
Tempelstädte von Tamil Nadu
1.
Einführung
Im äußersten Süden Indiens, im Bundesstaat Tamil
Nadu, konnte sich aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen eine
besondere Architekturgattung herausbilden, die dravidischen
Tempelstädte. Maßgeblich waren unter anderem folgende Faktoren:
- Der Naturraum von Tamil Nadu hat
großflächige feucht-heiße Küstenebenen tropischen
Klimas und landeinwärts trockenere Uplands, die von
vielen Flüssen durchzogen werden, welche eine
ausgedehnte Bewässerungskultur ermöglichen. Das führte
zu einem landwirtschaftlichen Reichtum
sowie einer hohen Bevölkerungsdichte
und insgesamt zu relativem Wohlstand,
der die Basis für die reiche Entwicklung der
dravidischen Kunst bildete.
- Die ausgedehnten Ebenen
förderten die flächige Entwicklung der
Städte und bot die Basis für idealtypische Anlagen wie
auf dem Reißbrett, weil keinerlei Rücksicht auf ein
komplexes Relief genommen werden mußte.
- Das plötzliche und gehäufte
Auftreten bestimmter Bauformen hängt auch damit
zusammen, daß nach dem Durchzug eines Muslim-Heeres die
alte Vijayanagar-Hauptstadt 1565 zerstört wurde. Die
schöpferischen Kräfte des Hindu-Reiches wandten sich
nach Süden. Damit war ein hoher Bedarf an Aufbau
von Tempeln und identitätsstiftendem Städtebau
vorhanden.
- In Nordindien war die Bevölkerung in
den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten weder
ethnisch noch politisch einig, der Norden wurde immer
wieder von Invasionen heimgesucht, und Konflikte zwischen
verschiedenen Bevölkerungsgruppen zehrten an den
wirtschaftlichen Ressourcen. Im äußersten Süden
dagegen war wenig von den verschiedenen Eroberungswellen
zu spüren, die im Norden immer wieder zu einem
wirtschaftlichen, politischen und architektonischen bzw.
städtebaulichen Neubeginn führten. Eine Invasion des
Heeres der muslimischen Sultane von Delhi führten nur zu
einem kurzen Interregnum. Von der Fruchtbarkeit des
Naturraumes gesegnet, relativ friedlich sich entwickelnd,
konnte die südindische Kultur während der gleichen Zeit
relativ umfangreiche Mittel in Kunst und Architektur
investieren, konnte über Jahrzehnte und Jahrhunderte an
Großprojekten fortarbeiten. So konnten religiöse
Großanlagen und städtebauliche Idealsiedlungen
realisiert werden, konnte sich die hinduistische
Kunst relativ unbehelligt in Richtung ihrer
Idealvorstellungen entwickeln.
- Städte und Tempel entwickelten sich
simultan und in enger Abhängigkeit voneinander.
Religiöse Zentren waren zugleich regionale Marktstädte,
Tempelfeste korrelierten mit großen Märkten. Handel
und Pilgerschaft entwickelten sich parallel in
den religiös-kommerziellen Zentren. Und
der Handel dringt auch in die äußeren Bezirke des
Tempelkomplexes ein, viele Stände fliegender Händler
sowie feste Handelsbuden finden sich in den Kolonnaden
und Hallen.
- Die Rolle des Tempels im
Stadtleben wurde zunehmend dominanter, so daß
Tempel nicht länger ein Bestandteil der Stadt waren,
sondern die Stadt ein sich formal, funktional und rituell
unterordnendes Anhängsel desselben wurde.
- Heiligkeit läßt sich nur schwer von
einem Ort auf einen anderen übertragen. Es war viel
üblicher, neue Bauten vorhandenen hinzuzufügen statt
alte Heiligtümer abzureißen und neu zu bauen. Um einen
Tempel zu vergrößern, fügte man lieber neue Einheiten
hinzu und verband sie mit den alten Strukturen durch
verbindende Mauern und einschließende Höfe. Die architektonische
Zusammenfassung neuer Bauten mit alten läßt
die neuen Elemente an der Heiligkeit der alten teilhaben,
ohne den Bestand des Heiligen zu gefährden.
- Das hinduistische Ritual legt
besonderen Wert auf die Umwandlung
(Pradakshina) einer heiligen Stätte. Dies begünstigt
die Herausbildung konzentrischer Strukturen.
- Die Üppigkeit
tropischer Vegetation schafft den äußeren Rahmen für
die Üppigkeit der figuralen Gestaltung.
Die Herausbildung der gigantischen Anlagen
unter zunehmender Expansion des Tempels und Unterordnung der
zugehörigen Stadt fand im wesentlichen im 14.-16. Jh. AD statt.
Die Expansion der Tempel setzte sich bis ins 17. Jh. AD fort. Zum
Erliegen kam die beispiellose Bautätigkeit erst durch die
politische, wirtschaftliche und auch militärische
Auseinandersetzung mit Europa, welches seine imperialistischen
Interessen auf Ausbeutung des reichen Landstriches richtete,
sowie mit den Kriegern des Marathen-Reiches und des
Moghul-Reiches. Erst mit dem Abfluß des wirtschaftlichen
Wohlstandes im Rahmen der britischen Besatzung kam es zum
Niedergang.
Insgesamt gibt es über 30 Tempelstädte,
die mehr oder weniger die im nächsten Kapitel beschriebenen
Merkmale zeigen. Der Schwerpunkt liegt in Tamil Nadu, einige
befinden sich auch in den angrenzenden Bundesstaaten, wie
folgende Karte der bedeutenden Tempel Südindiens zeigt:
Beispiele für typische und
wichtige Tempel(städte) in Tamil Nadu und unmittelbar
angrenzenden Gebieten (weit von Vollständigkeit entfernt!):
- Madurai,
Minakshi-Sundareshvara-Tempel, Meenakshi Amman Tempel,
im wesentlichen aus der Nayaka-Periode (16. - 17. Jh. AD)
- Srirangam,
Ranganathaswami, Sri Rangarathaswamy, Ranganatha-Tempel,
Tiruvarangam Koyil: Bei Tiruchirappalli (Trichy City)
gelegen, 5-8 km im Norden der Stadt Tiruchirappalli auf
einer ca. 250 ha großen Insel im Fluß Cauvery (Kaveri).
Eine der großartigsten und vollständigsten
Tempelanlagen Südindiens. Hat 7 Mauern, 7 Prakramas
(Prakarams), 21 Gopuram, davon ist der Raja-Gopuram im
Süden der Anlage mit 13 Stockwerken und 72 m Höhe der
größte. Er wurde erst im Jahre 1987 fertiggestellt. Die
anderen datieren aus dem 14.-17. Jh. AD. Es handelt sich
bei der Anlage um den größten Tempel in Südindien. Die
siebte, äußerste Mauer mißt 950m x 816m, damit
umschließt der Mauerring mehr als 77 Hektar. Nicht zu
verwechseln mit dem 2 km östlich gelegenen ähnlichen
Jambukeswaran-Tempel von Tiruvanaikkal, der dem Element
Wasser zugeordnet ist.
- Chidambaran
(Chidambaram), Shiva-Nataraja-Tempel: Das ist einer der ältesten, am meisten
verehrten und prächtigsten Tempel in Tamil Nadu. Seine
Ursprünge liegen in der Chola-Zeit, wesentliche
Hinzufügungen erfolgten in der Pandya- und
Vijayanagar-Zeit. Vier Mauern, vier Prakrama. Vier große
Gopuram in der Außenmauer: Der Ost-Gopuram mißt 40 m
und hat 108 Darstellungen von Bharatanatyam. Der Nordturm
ist mit 42 m der höchste der Außentürme. Das Areal des
Tempel mißt ca. 16 Hektar. Es gibt einen großen
Tempelteich von 53m x 30m.
- Tirunageswaram bei
Kumbhakonam
- Tiruvanaikka,
Tiruvanaikaval, Jambukeshwaran-Tempel,
Jambukesvaran-Tempel: Bei Tiruchirappalli (Trichy City)
gelegen, ca. 10 km im Nordosten der Stadt
Tiruchirappalli, 2 km östlich von Srirangam. Insgesamt ist die Tempelstadt kleiner,
aber der reine Tempel an sich ist größer als Srirangam. Es gibt 5 Prakramas (Prakarams), einer
mehr als in Srirangam,
aber nur sieben Gopurams. Die eingeschlossene Fläche
beträgt 72000 Quadratmeter oder über 7 Hektar. 2. und
3. Prakaram datieren aus dem 13. Jh. Der Tempel gehört
zum 5-Elemente-Cluster und steht für das Element Wasser.
- Rameswaram,
Ramesvaram, Ramanathaswami-Tempel, Ramanatha-Tempel:
17.-18. Jh. An dem allersüdöstlichsten Punkt Tamil
Nadus gelegen, wo ein paar Inseln nach Sri Lanka
überleiten. Der Tempel selbst liegt auf einer Insel.
Ausgedehnte Anlage mit 3 Prakarams und mehreren Mandapas.
- Kanchipuram,
Ekambeshvara-Tempel, Kachi Ekambam -Tempel:
1509 gegründet, überwiegend 16. und 17. Jh., 53 m hohes
Raja-Gopuram, erbaut vom Vijayanagar-Herrscher
Krishnadevaraya. Grundfläche ca. 160000 Quadratmeter
oder ca. 16 Hektar. Auch die Pfeilerhalle vord em
Heiligtum wurde von den Vijayanagar-Königen erbaut.
- Tiruvannamalai, Tiru
Annamalai, Arunachaleshvara-Tempel: Anfänge liegen in
der Chola-Periode, heutige Bauwerke im wesentlichen aus
dem 16.-17. Jh. Der Tempel umfaßt eine Fläche
von fast 100000 Quadratmetern oder 10 Hektar. 5 Prakarams
unterteilen diese Fläche, wobei die innerste Einfriedung
nichts anderes als die Plattform um den Schrein ist, und
die erste ernstzunehmende Mauer als "Zweite"
Einfriedung bezeichnet wird. Tiruvannamalai ist einer der
großartigsten saivitischen Schreine Südindiens.
Insgesamt gibt es neun Gopurams. 4 gewaltige Gopurams
regeln den Durchgang durch die äußerste Mauer (5.
Einfriedung), nämlich das Pei Gopuram im Westen, das
Tirumanjana Gopuram im Süden, das Ammanaiammal (oder:
Ammani Amma) Gopuram im Norden und schließlich das Raja
Gopuram im Osten mit 11 Stockwerken und einer Höhe 66 m.
Jeder der Prakarams hat einen großen Nandi (Stier-Figur,
Reittier Shivas) und weitere Tortürme wie z. B. das
Vallala Maharaja Gopuram in der vierten Einfriedung oder
das Kili Gopuram in der dritten Einfriedung. Das kleine
Rishi Gopuram gibt Zutritt zur zweiten Einfriedung
(innere Mauer). In der vierten Einfriedung befindet sich
der Brahma Tirtha-Teich, weitere wichtige Bauten in
diesem Prakrama sind zwei Pfeilerhallen, eine im Westen,
die andere, die Puravi Mandapa, im Osten. In der fünften
Einfriedung liegt ein weiterer Tempelteich mit
umlaufender Kolonnade, der Shivaganga-Teich, weiterhin
findet in diesem Prakrama die 1000-Pfeiler-Halle ihren
Platz. Die 1000-Pfeiler-Halle und der äußere
Tempel-Teich sind von Krishna Deva Rayarar von
Vijayanagar erbaut worden.
- Kanchipuram, Kumarakottam-Tempel: 2
Prakarams
- Kanchipuram, Kamakshi Amman
Tempel: Der Tempel bedeckt eine Fläche von ca.
20000 Quadratmetern oder 2 Hektar. Das Heiligtum selbst
wird von einem vergoldeten Vimanam bekrönt. Der
Grundriß ist trotz der geringen Größe der Anlage
komplex: Der äußere Prakraram nimmt den Tempelteich
sowie verschiedene Mandapas auf, wie z. B. das
100-Säulen-Mandapa oder das Ddwajaarohana Mandapa. Die
Mauer zum inneren Prakraram wird auf allen vier Seiten
von je einem Eingang durchbrochen.
- Tiruvadaimarndur (10
km NO von Kumbhakonam), Mahalinga-Perumal-Tempel: 17.-18.
Jh.
- Tiruchendur Murugan Tempel: Direkt
am Meer gelegen.
- Tirunelveli: Der Tempel ist in
Wirklichkeit ein Doppeltempel, einer für Nellaiappar,
der andere für Kantimati, beide verbunden durch das
Sangili-Mandapa. Von besonderer Schönheit sind die
Oonjal-Mandapa und die 1000-Pfeiler-Halle. In der Nähe
des Hauptschreines gibt es einen Nellai Govindan-Schrein.
Der Tempel ist berühmt für den Reichtum an exquisitem
Skulpturenschmuck. Berühmt sind auch die klingenden
Säulen. Beispielsweise gibt es in der Nähe des
Nandi-Mandapas das sog. Mani-Mandapa mit zwei
gigantischen Säulen, die aus einem einzgen Steinblock
geschnitten wurden. Jede hat 48 Untersäulen, die beim
Anschlagen klingen.
- Tiruvarur
(53 km O von Tanjore)
- Mylapore (in
Madras/Chennai aufgegangen), Kapalishvara-Tempel,
wiederaufgebaut.
- Tirumala (bei
Tirupati), Sri Venkateshvara-Tempel
- Kalahasti
(Srikalahasti, Sree Kalahasti, Kaalahasti) bei
Tirupati: Ein ausgedehnter Tempelkomplex an den Ufern
des Swarnamukhi, der sich bis zu den angrenzenden Hügeln
erstreckt. Es gibt drei hohe Gopurams. Bemerkenswert ist
auch ein riesiger Tempelturm, der keine Eingangsfunktion
hat.
- Darasuram (bei
Kumbhakonam), Airavateshvara-Tempel, späte Chola-Zeit.
- Srivilliputtur
=Tiruvilliputtur bei Tirunelveli,
Vatapatrashayi-Tempel: 63m hohes Gopuram aus der
Nayaka-Periode (17. Jh.) mit 11 bzw. 13 Geschossen (je
nach Zählweise). Der Tempel hat seine Ursprünge im 8.
Jh. Im wesentlichen stammen die heute sichtbaren Bauwerke
aber aus der Nayak-Periode. Der Tempel ist berühmt, weil
er das höchste alte Gopuram (Seit 1987 ist das höchste
Gopuram in Srirangam) und
damit das Wahrzeichen von Tamil Nadu hat. Zwei Hauptzonen
beherbergen jeweils den Vatapatrasayee-Tempel (im
Nordosten) und den Aandaal-Tempel im Südwesten. Zwischen
beiden Arealen befindet sich ein Garten. Für jeden der
10 Avataras Vishnus gibt es einen Schrein.
- Swamimalai
(Tiruvalanjuli, 8 km westl. von Kumbakonam),
Kapardishvara-Tempel.
- Suchindram,
Sthanumalaya-Tempel: 13.-18. Jh. Thanumalayan Tempel,
13 km entfernt von Kanyakumari. Der Gopuram ist 40m hoch
und hat wundervolle plastische Arbeiten. Insgesamt gibt
es 30 exquisit ausgearbeitete Schreine in dem Komplex.
Die Tanzhalle besticht mit ihren 1035 Säulen.
- Thiruvinnagaram: Der
Uppiliappan-Tempel in Thiruvinnagaram liegt 6 km von
Kumbhakonam entfernt. Die Gottheit ist unter vielen
abweichenden Namen bekannt, z. B. The Uppiliappan,
Oppiliappan, Srinivasan, Venkatachalapathy,
Tiruvinnagarappan, etc. Der Tempel besitzt einen 15m
hohen fünfstöckigen Raja-Gopuram unhd zwei Prakarams.
- Sri Mayuranathar Tempel
in Mayiladuthurai = Mayuram = Mayavaram.
Die Ausdehnung des Tempels beträgt 32500 Quadratmeter
oder über 3 Hektar. Der Tempel hat 5 Prakarams und 14
Vimanams. Sein Raja Gopuram erreicht eine Höhe von 50 m
und hat 9 Stockwerke. Restaurierung im 19. Jh.
- Tiruvalankadu bei Kanchipuram,
Arakkonam
(1) - Die Tempelstädte von Tamil Nadu, eine
Einführung
- (2) - Cluster von Tempeln
(3) - Stilmerkmale der
Tempelstädte von Tamil Nadu
(4) - Srirangam: Eine Idealstadt - (4a)
- Srirangam: Grundriß in hoher Auflösung
(5) - Die Tempelstadt Madurai - (5a)
- Madurai: Grundriß in hoher Auflösung
(6) - der Nataraja-Tempel in
Chidambaram
- (6a) - Chidambaram: Grundriß in
hoher Auflösung
Links, Quellen und Literatur zur
indischen Architektur
Photos Madurai (1) - (2) - (3) - Photos Srirangam (1) - (2) (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos
Suchindram
- Photos Tiruvannamalai (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos Tirukalikundram - Photos Chidambaram (Margret Foth, Fritz
Niemann)
Photos
Kanchipuram (1)
(Margret Foth, Fritz Niemann)
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