Bernhard Peter
Abjad
- Zahlenmystik mit der arabischen Schrift
Abjad (auch: Abdschad) bezeichnet das arabische Alphabet, aber in einer anderen Reihenfolge der Buchstaben als heute üblich, wobei den einzelnen Buchstaben Zahlenwerte zugeordnet sind, Einer, Zehner, Hunderter, Tausend. Jeder Buchstabe ist damit Träger eines Lautwertes und Träger eines numerischen Wertes zugleich. Genauso wie die Buchstaben eines Wortes einen Wortsinn ergeben, so ergeben die addierten Zahlwerte seiner Buchstaben einen Zahlsinn, der wiederum stellvertretend für den Wortsinn sein kann. Buchstabe und Zahl, Wort und Quersumme desselben gehen damit ein komplexes symbolisches Wechselspiel ein, welches in der Zahlenmystik des Orients eine wichtige Rolle spielt.
Die Bedeutung dieses Systems zur Darstellung von Zahlen in alten Zeiten wird häufig unterschätzt, vor allem, weil wir an die Benutzung unseres "arabischen" Ziffernsystems zur Expression von Zahlen gewöhnt sind. Das System der "arabischen Zahlen" wurde aber erst ca. 600 AD in Indien erfunden und im Orient zum ersten Mal von Al-Khwarizmi im 9. Jh. benutzt. Mit dem Siegeszug des neuen Ziffernsystems inclusive der Null wurde das alte System verdrängt und überlebte nur noch in der Zahlenmystik und in der Poesie. Heutzutage wird das System bei den Sufis (Naqshbandi etc.) noch gepflegt.
Aber auch im nichtreligiösen Bereich spielt die Zahlenverschlüsselung eine Rolle: Bei osmanischen Bauwerken in der Türkei wird die Jahreszahl gerne in der letzten Zeile eines Gedichtes verschlüsselt mit Hilfe der Abjad-Werte. Oder der Titel eines literarischen Werkes birgt in seinen addierten Zahlwerten das Erscheinungsjahr.
Regeln:
Die alte
Reihenfolge:
Abdschad wird die alte
Reihenfolge der arabischen Buchstaben nach den ersten vier
Buchstaben genannt, Alif-Ba-Dschim-Dal. Die selbe Reihenfolge
analoger Zeichen findet sich auch beim phönizischen und
griechischen Alphabet und auch beim hebräischen Alefbet. Das
Wort "Abdschad" steht auch allgemein für ein
Konsonantenalphabet. In der alten Reihenfolge werden die
Buchstaben ("Huruf-ul-Abdschad") in acht Wörtern
gruppiert:
'abdschad - hawwaz -
h.ut.t.i
1, 2, 3, 4 - 5, 6, 7 - 8, 9, 10
kalaman - sa'fas.
20, 30, 40, 50 - 60, 70, 80, 90
qurischat - thachidh -
d.az.igh
100, 200, 300, 400 - 500, 600, 700 - 800, 900, 1000
Regionale Unterschiede:
Im Maghrib, also in Nordafrika
und Andalusien war ein leicht unterschiedliches alphanumerisches
System in Gebrauch, das sich vom ostarabischen leicht
unterschied:
Beispiele aus der islamischen Tradition:
Allah: Zahlwert 66. A + L + L + H = 1 + 30 + 30 + 5 = 66.
Doppel-Waw, oft spiegelbildlich überlagert: Ziemlich unorthodox kann die 6 und 6 als Darstellung für die Zahl 66 (Allah) gelesen werden - gerne wird in kalligraphischen Darstellungen das Doppel-Waw (6 und 6) als synonymes Zeichen verwendet, besonders in der türkischen Schriftkunst. Im Bereich der Schia kann ein verdoppeltes Waw natürlich auch für 6 und 6 = 12, also für die 12 schiitischen Imame stehen.
Muhammad: Zahlwert 92, M + h. + m + d = 40 + 8 + 40 + 4 = 92
M = 40. M ist der Anfangsbuchstabe des Prophetennamen Muh.ammad. Damit wird die 40 in der Mystik zur typischen Prophetenzahl. Der himmlische Name des Propheten ist Ah.mad. Zwischen dem Namen Ah.mad und dem Wort "Ah.ad" gibt es nur einen Unterschied: "M" oder 40. In der Mystik trennen 40 Stufen den Menschen von Gott. Es gibt Sammlungen von je 40 Ahadith (Plural. von Hadith), es gibt 40tägige Klausuren und Meditationen, mystische Formeln wurden in bestimmten Kreisen gerne vierzigmal wiederholt.
Die Bismillah - Formel (Bismillahi-r-rahmani-r-rahim, Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen) hat einen Zahlenwert von 786: b + s + m + alif + l + l + h + alif + l + r + h. + m + n + i + alif + l + r + h. + i + m = 2 + 60 + 40 + 1 + 30 + 30 + 5 + 1 + 30 + 200 + 8 + 40 + 50 + 1 + 30 + 200 + 8 + 10 + 40 = 786. In Indien und Pakistan wird diese Zahl als Stellvertreter für die Bismillah verwendet.
Qur'an (Koran): Zahlwert 352, Q + r + Hamsa + Alif + N = 100 + 200 + 1 + 1 + 50
Rasul (Gesandter): Zahlenwert 296, R + S + W + L = 200 + 60 + 6 + 30, Synonym für Muh.ammad
Nabi (Prophet): Zahlenwert 62, N + B + I = 50 + 2 10 = 62, Synonym für Muh.ammad
Beispiele aus der Baha'i-Tradition:
Wâhid: Zahlwert 19. Das arabische Wort Wâhid ("Einer" für Gott) hat den Zahlenwert 19 nach dem Abdschad-System. Die 19 versinnbildlicht also mystisch die Einheit Gottes. Insbesondere die Zahl 19 ist von großer Bedeutung für die Baha'i: 19 Monate hat das Jahr, 19 Tage der Monat, der 19. Monat ist der Fastenmonat. W + â + H + D = 6 + 1 + 8 + 4 = 19
Kulli Schai: Zahlwert 361. Im Bahâ'i-Kalender gibt es noch einen Super-Zyklus von 361 Jahren (19*19), der Kulli-Schai ("alle Dinge") genannt wird. K + L + SCH + I + Hamsa = 20 + 30 + 300 + 10 + 1 = 361
Bahâ': Zahlwert 9. Die Quersumme der Zahlenwerte des Wortes Bahâ (persisch "Glanz, Herrlichkeit") ergibt B + h + â + Hamsa = 2 + 5 + 1 + 1 = 9.
Nabil: Zahlwert 92 - damit ergibt sich eine Verbindung zu Muhammad, denn beide haben den selben Zahlenwert: M + h. + m + d = 40 + 8 + 40 + 4 = 92, N + b + i + l = 50 + 2 + 10 + 30 = 92
Abjad
heute:
Von der islamischen Orthodoxie
wird der Gebrauch der Zahlensymbolik heutzutage kritisch
beurteilt, zum einen, weil eine Zahl niemals den Wortlaut
insbesondere von heiligen Namen, Wörtern oder Sätzen ersetzen
kann, zum andern, weil eine Zahl nicht eindeutig ist in ihrer
Bedeutung, denn die Quersumme kann auch ganz anders erreicht
werden mit abweichender Bedeutung. Drittens lehnt die Orthodoxie
es strikt ab, aus Namen etc. mit Methoden der Numerologie
Eigenschaften und Zukunft abzuleiten. Nicht zu Unrecht versucht
der orthodoxe Islam einer ausufernden Numerologie Einhalt zu
gebieten, zumal sich bei hinreichender Komplexität einfach alles
beweisen läßt und und dies von begeisterten Anhängern dieses
Aberglaubens mit kindlicher Naivität und umso größerem
Sendungsbedürfnis praktiziert wird, insbesondere aus dem
mystischen bzw. sufischen Bereich.
Dennoch ist eine Kenntnis des Abjad wichtig, denn so erschließen sich kalligraphische Kunstwerke einerseits und poetische Literatur anderseits besser dem Interessierten, und gerade in der Literatur der alten Mystiker erschließt sich häufig ein verborgener Sinn erst über diese Zuordnungen.
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Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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