Bernhard Peter
Lhasa: Menschen auf dem Barkhor (1)

Umrundungswege:
Der Jokhang-Tempel ist das religiöse Zentrum der Stadt Lhasa, der geistige Mittelpunkt, das wichtigste Heiligtum und Pilgerziel im Range eines Nationalheiligtums. Wie alle verehrten Stätten wird er von den Gläubigen umrundet einfach, mehrfach, stundenlang, auch tagelang, immer wiederkehrende Gesichter. Zum Umrunden gibt es drei Möglichkeiten: Der Nangkhor ist der innerste Weg um den Jokhang, der mittlere Umrundungsweg ist der Barkhor, die breite Fußgängerstraße rings um den Block des Jokhangs mit Nebengebäuden, der am meisten frequentierte und am dichtesten mit Menschen bevölkerte Umrundungsweg, und schließlich gibt es noch den Lingkhor, den äußeren Umrundungsweg um Lhasa herum, der aber von weniger Menschen gewählt wird und in seinem Verlauf nicht so eindeutig ist wie der mittlere Weg.

Die einfachste Möglichkeit der Umrundung ist das einfache Schreiten, dabei die Gebetsmühle drehend, wobei jede Umrundung und jede Drehung immer im Uhrzeigersinn erfolgt. Die meisten tragen die Gebetsmühle in der Rechten und einen Rosenkranz in der Linken. Andere wiederum messen die Wegstrecke mit ihrem Körper ab, falten die Hände vor der Stirn, lassen sich auf die Knie nieder, legen sich bäuchlings auf Straßenflaster, Knie und Hände mit Schonern aus Holz, Plastik oder Stoff geschützt, strecken die Arme aus, stehen wieder auf und gehen zur letzten Position der Hände vor, das gleiche wiederholend, bei einer einfachen Umrundung des ca. 500 m langen mittleren Weges sind das immerhin rund 300 Niederwerfungen. Und ganz strenge Pilger messen die Wegstrecke nicht mit ihrer Körperlänge, sondern mit ihrer Körperbreite ab, das wären pro Umrundung weit über tausend Niederwerfungen, eine tagesfüllende Demutsbezeugung und Verehrung rings um das Heiligtum, die die Grenze der Selbstkasteiung der sich wie in Trance wieder und wieder niederwerfenden Menschen überschreitet.

Die religiöse Übung ist das Eine, das soziale Ereignis das Andere, der Barkhor ist zugleich sozialer Treffpunkt, Handelsstraße voller Läden, Flaniermeile, und so findet jeder seine individuelle Mischung aus Glaubensausübung und sonstiges Interessen, ein Ring voller bunten Lebens mitten in Lhasa, wie ein Marktplatz, der einzigartig ist durch seine Ringform und den nie abebbenden Strom der Menschen, die ihn im Uhrzeigersinn abschreiten.

Leider ist der Weg nicht mehr von allzuviel alten Häusern gesäumt, die chinesische Verwaltung ließ die alten historischen Häuser so gut wie komplett abreißen und durch Neubauten ersetzen, manche durch Scheinfassaden "tibetisiert", andere nüchterne Zweckbauten billigster Qualität, mit schreienden chinesischen Reklametafeln, ein respektloser Umgang mit der historischen Bausubstanz und augenfällige Verachtung der traditionellen tibetischen Lebensweise.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2009
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