Bernhard Peter
Kloster Sera: Buchdruckerei

Ein tibetisches Buch ist ganz anders aufgebaut als ein europäisches Buch: Traditionell fehlt ein Rücken, und das Buch bleibt ein Blattstapel. Die einzelnen Blätter sind querrechteckig, und zwar reichlich, denn ein Buch kann locker die drei- bis fünffache Breite seiner Höhe haben, und entsprechend lang sind die wenigen Zeilen einer Seite. Dies erfordert wiederum, daß die Seiten des Blattstapels nicht von rechts nach links umgeschlagen werden, sondern von unten nach oben, wo auf dem dort abgelegten oberen Deckel der Stapel gelesener Blätter wächst. Geschrieben wird das Tibetische allerdings von links nach rechts, dies wenigstens ist für uns gewohnt. Das Nichtvorhandensein eines Rückens läßt zu, ja erfordert geradezu zwei stabile Holzdeckel. Bei kostbaren Büchern wird der Papierstapel zusätzlich in Stoff eingeschlagen, und zwar so kunstvoll, daß auf der schmalen Stirnseite, die in einem Regal, in dem die Bücher liegend aufbewahrt werden, eine Reihe kunstvoll verzierter rechteckiger Läppchen die sichtbare Kante nicht nur verziert, sondern dem Kundigen zeigt, welchen Inhalt er hier suchen muß. Dieses in Stoff geschlagene Paket wird zwischen die hölzernen Deckel gelegt, die immer für unsere Gewohnheiten erstaunlich massiv und kräftig wirken und gemeinsam durchaus mit der Dicke des zwischen ihnen befindlichen Blattstapels konkurrieren können. Größere Blattstapel sind manchmal assymmetrisch mit einem Loch versehen, durch das man den Stapel fixieren kann.

Im Kloster Sera hat eine traditionelle Buchdruckerei ihren Betrieb aufgenommen. Die Regale sind wie in Bibliotheken mit rot gestrichenen und golden bordierten Brettern in Fächer eingeteilt, in denen die einzelnen Druckstöcke stehen. Es wird traditionell nach dem Hochdruckverfahren geabeitet, und für jede einzelne Seite existiert ein von Hand geschnitztes Brettchen als Druckstock. Der Druckermeister hat den Druckstock längs vor sich liegen, der gewünschte Schriftblock nach oben, dann wird mit flinken Händen mittels eines auf einen Holzklotz gespannten Lappens die Druckerschwärze aufgetragen, ein schmalrechteckiges Papier vom Stapel genommen, aufgelegt, mit Druck glattgestrichen, und schon tragen die Hände die nächste Farbe auf, während neben dem Druckermeister der Stapel dieses einen Blattes der jeweiligen Auflage in die Höhe wächst. Ein sehr mühsames und aufwendiges Verfahren, aber die Druckstöcke sind nicht so eben, daß man auf einer glatten Oberfläche nach unten drucken könnte, aber das manuelle Aufstreichen des Papiers auf dem Schriftblock garantiert eine gleichmäßige Wiedergabe. Erst wenn man diesen Aufwand sieht, die Regale voller einzelner Druckstöcke, wo mehrere Regalmeter zusammen nur ein kleines Bändchen ergeben, begreift man das Revolutionäre der Idee eines Schriftsatzes aus individuell zusammenstellbaren Einzellettern.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2009
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