Bernhard Peter
Gyantse: Kumbum, oberste Etage

Über dem stufenförmigen Unterbau des Kumbum erhebt sich ein runder Abschnitt, der in jeder der vier hauptrichtungen einen Eingang zu einem der vier Lhakhangs aufweist. Jeder einzelne Lhakhang weist im Innern große Statuen auf, während die Wände mit Mandalas erlesener Qualität zwischen unzähligen anderen figürlichen Szenen oder einfach zweidimensionalen Reihungen von Buddhas aufweisen.

Süd-Lhakhang: Große Figur = Buddha Shakyamuni, "der Weise aus dem Geschlecht der Shakya", der historische Buddha Gautama Siddharta, der diesen Namen nach seiner Loslösung von seinen Lehrern und alleinigem Suchen nach dem Erlösungsweg bekam, mit typischer Erdberührungsgeste, flankiert von zwei kleineren Figuren: Avalokiteshvara (Bodhisattva der Barmherzigkeit) und Buddha Maitreya (Buddha der Zukunft). Kleinere Szenen zweigen die Arhats, die in Felshöhlen nachgestalteten grottenartigen Nischen sitzen.

Arhats sind Heilige, Asketen. Sie spielen eine Rolle in der Geschichte des historischen Buddhas, insofern, als dieser einerseits erst bei diesen lebte, später aber nach seiner Erleuchtung diesen seine erste Predigt hielt. Es gelten zwei unterschiedliche Ideale, wobei die Arhats das Ideal des frühen Buddhismus darstellen, indem sie den Schwerpunkt auf Erreichen persönlichen Heils legen. Das Ideal des späteren Mahayana-Buddhismus liegt eher in den Bodhisattvas, die alle Wesen ebenfalls der Erlösung zuführen wollen. Arhats sind Menschen, die ihre Unreinheiten ausgelöscht haben, die ohne Verlangen sind, die das Ziel der Befreiung des Geistes durch volkommene Erkenntnis erreicht haben. Sie sind frei von den zehn Fesseln, die den Menschen an den Daseinskreislauf ketten: Egoismus, Zweifel, Ritus- und Regelverhaftetheit, sinnliches Begehren, Groll, Dünkel, Erregung, Ignoranz und Begehren nach Fein- und Unkörperlichkeit.

Arhats im südlichen Lhakhang

Arhats im südlichen Lhakhang

West-Lhakhang: Große Figur = Buddha Shakyasimha = "Löwe der Shakya", eine Form des historischen Buddhas, flankiert von zwei kleineren Figuren: Manjushri (Bodhisattva der Weisheit, typische Attribute: Schwert der Weisheit und der Zerteilung der Dunkelheit rechts, Sutra-Text = Buch links, meist Schwert und Buch auf zwei je in Kopfhöhe erscheinenden Lotosblüten) einerseits und der friedvollen Form des Vajrapani (ein Bodhisattva, in weißer Form).

Nord-Lhakhang: Große Figur = Yum Chenmo (= Prajnyaparamita) = Göttin der ursprünglichen intuitiven Weisheit, begleitet von den Buddhas der Zehn Richtungen.

Ost-Lhakhang: Große Figur = Vairocana. Vairocana ist einer der fünf transzendenten Buddhas = 5 Tathagatas = 5 Jinas, unter denen Vairocana insofern eine Sonderstellung hat, als im einige Zuordnungen fehlen (Buddha-Familie, Weltgegend), er andererseits aber nicht nur ein Tathagata-Buddha ist, sondern auch ein Adi-Buddha. Ikonographisch folgt er dem Tathagata-Schema mit 1-4 Gesichtern und 2-8 Armen, während die anderen Adi-Buddhas nur 1 Gesicht und 2 Arme haben, ferner fehlt diesen eine tantrische Begleiterin und ein Begleittier, welche die Tathagata-Buddhas auszeichnet. Seine Farbe ist weiß. Die ikonographisch für ihn typische Geste ist die der höchsten Erleuchtung und des Radandrehens, die Dharmachakra-Geste oder Predigt-Geste. Die rechte Hand liegt bei leicht angewinkeltem Arm auf der Brust, die Handfläche weist nach außen. Die linke Hand bedeckt sie, mit der Handfläche nach innen, dabei berühren sich einige Fingerspitzen. Daumen und Zeigefinger beider Hände bilden in Brusthöhe einen Kreis. Die restlichen Finger sind ausgestreckt. Das ist die Geste des Andrehens des Rades. Die Geste erinnert an die erste Predigt von Sarnath, in der Buddha die Vier Edlen Wahrheiten erläuterte. Entsprechend sind typische ikonographische Attribute: das Rad (Chakra) der Lehre (Dharma). Er wird mit 1-4 Gesichtern und 2-8 Armen und Händen dargestellt.

Über den vier Eingängen befindet sich jeweils ein Chhepu, eine Maske, aus deren Mundwinkeln Schlangen hervorkommen, die er mit seinen beiden Armen ergreift, denn Chhepu ernährt sich von Nagas. Einen eigentlichen Körper hat Chhepu nicht. Chhepu ist der jüngere Bruder von Garuda und Hitimanga. Die Mutter wünschte sich nach den beiden letztgenannten einen weiteren Sohn, einerseits mit übernatürlichen Fähigkeiten, andererseits mit den Atributen des Wahrhaften und Tapferen. Die Mutter wollte nicht hören und warten und schauet zu früh in ihr Nest - deshalb blieb Chhepu die körperlose Form, denn bis dahin war er nur Kopf und Arme. Er verschwindet, wenn das Kaliyuga beginnt, das Böse siegt und schließlich Vishnu als Kalki kommt. Über den Eingängen von Tempeln, Schreinen etc. wird ein Chhepu angebracht, um diese vor allem Unbill zu schützen.

Hoch über der Statue befindet sich ein Mischwesen aus Mensch und Vogel, der mythische Vogel Garuda. Kopf, Flügel und Schwanz sind vom Vogel, Arme und Beine vom Menschen. Im Buddhismus gilt er als Symbol Buddhas, weiterhin ist er Reittier des Dhyani-Buddhas Amoghasiddhi. Im Hinduismus ist er das Reittier Vishnus und spielt eine Rolle beim Diebstahl des Amrita für seine Mutter, was zum Kampf mit Indra und dessen Besiegung führte. Rechts und links wird er von zwei Dakinis begleitet, die er jeweils beim Fuße gepackt hält, spärlich bekleidete übernatürliche Wesen in Frauengestalt.

Typisch für Mahayana und Vajrayana ist die Verwendung von Meditationshilfen, zu denen natürlich die verschiedenen Statuen der Buddhas und anderen Erscheinungsformen gehören, vor allem aber die Visualisierungen in Form von Mandalas. Diese verschiedenen Systeme aus konzentrischen Zonen sind ein Mittel zum Zweck, um den unsteten Geist des Betrachters oder auch Herstellers zu seiner eigenen Natur zurückfinden zu lassen, um sich von den ablenkenden Sinneseindrücken, von den Äußerlichkeiten und Akzidentien zu befreien und um so die eigene Buddhanatur in sich wahrzunehmen. In den obersten vier Lhakhangs befindet sich eine Reihe exquisiter Mandalas als Wandmalereien, vor allem im südlichen Raum.

Figuren rechts und links der Eingänge zu den vier Lhakhangs der obersten Ebene

Figur an einem Eingang zu einem der vier Lhakhangs der obersten Ebene

Andere Essays über Tibet lesen
Andere Länderessays lesen
Home

© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2009
Impressum