Bernhard Peter
Von Leh nach Likir - Reisebericht

Von Leh aus geht es das Industal nordwestwärts. Doch zuerst führt die Straße durch die unendlichen Vororte und noch unendlicheren Militärlager den Hang hinunter bis fast zur Talsohle. Man erinnert sich an das geflügelte Wort: Früher wurde der Jüngste einer Familie Mönch, heute wird er Soldat. In der Tat ist die Armee nicht nur Garant der Freiheit der Täler, sondern auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und sicherer Arbeitgeber. Nach Militärlagern und Flughafen grüßt der Tempelberg von Spituk, direkt an der grünen Oase des Tales mit ihren Feldern und Bäumen, zwischen denen träge der schmutzig-graue Indus dahinströmt. Hier knickt die Straße nach Westen ab, und man folgt dem Flußlauf mit einigen sehr schönen Ausblicken auf die streckenweise sehr idyllische Oase. Kurz darauf grüßt auf der Nordseite von ferne ein weiterer Klosterberg, Phiyang, hoch oben am Ende einer gewaltigen schiefen Ebene aus Geröll, vor traumhaft schöner Bergkulisse. Aber das ist eine andere Geschichte, mich zieht es weiter nach West-Nord-West entlang des Tales. Die Oase ist bald zu Ende, die Berge werden schroffer. Die Landschaft wird wilder und einsamer. Selbst die Militärcamps hören auf. Gigantische Bergmassen geben spektakuläre Aussichten, insbesondere am Zusammenfluß von Indus und Zanskar, letzterer erscheint fast mächtiger. Basgo wird durchquert, die nächste ausgedehntere Oase, hoch über dem alten Ort liegt die verfallene Burg mit zwei wiederaufgebauten Tempeln inmitten der Reste alter Macht über den vorbeiführenden Handelsweg.

In Likir, einer kilometerlang sich hinziehenden Oasen mit verstreut liegenden Gruppen von Gehöften, geht’s zuerst auf die Suche nach dem Quartier. Nach langem Durchfragen geht es in einen zweiten Ortsteil hinter einem weiteren Gebirgsausläufer, jenseits des Baches. Auch hier ist erst einmal großes Rätselraten angesagt. Die paar Gehöfte wirken wie ausgestorben, die Kinder sind in der Schule, die Erwachsenen auf den Feldern, nur ein paar Alte, gängiger Sprachen außer Gesten nicht mächtig. Welcher dieser lehmgrauen Häuser mag das Homestay sein? Man wartet am Eingang des Dorfteiles in sengender Sonne neben einer Reihe verfallender Tschörten.

In dieser Stille des Wartens fahren die Eindrücke Achterbahn. Falsch – die Nichteindrücke eher, denn es gibt selten Orte von solcher Stille, Abgelegenheit. Insbesondere nachdem der Wagen zurück nach Leh gefahren ist, und das letzte Tuckern des Motors nach Umrunden der letzten Wegesbiegung verstummt ist, das letzte Band zur Zivilisation des Hauptortes durchschnitten ist, überfällt einen mit Macht die Stille, Einsamkeit, Abgelegenheit des Ortes, und jedes Summen eines Insekts, das Rascheln eines trockenen Halmes, wird zum kommunikativen Ersatz in einer Welt, die so unvorstellbar anders ist. Visuelle Eindrücke überwiegen die akustischen bei weitem. Sämtliche Sinne sind hellwach und horchen in die Stille, saugen jedes Geräusch auf wie ein Schwamm, ganz anders als in unserem Leben in der westlichen Welt der Städte, in dem man ohne mentalen Filter und Auswahl der Sinneseindrücke nicht überleben würde. Einsamkeit und Neugier mischen sich.

Schließlich wird der Vater des Bauern, dem das Homestay gehört, ausfindig gemacht. War bislang die Stille mit Händen zu greifen, erzeugte in der einsamen Bergwüste bislang ein einzelnes rollendes Steinchen einen ungeahnten Lärm, so hallte jetzt das Tal wieder, so brüllte er seinen Sohn aus den Feldern herbei, wo dieser gerade mit der Gerstenernte beschäftigt war. Immerhin spricht der ein paar Worte Englisch, etwa zehn.

Ein wackeliges Hoftor aus Blech wird nach gewundenen, von Trockenmauern gesäumten Wegen erreicht, dieses führt zum betreffenden Anwesen, wenn der Name gerechtfertigt ist. Doch zuerst kann man sich dem gar nicht widmen, muß doch erst ein wild kläffender, hellbrauner Köter, der von neuem die Stille zerreißt, überzeugt werden, daß man durchaus ein zwar erkauftes, aber berechtigterweise vorhandenes Recht besitzt, hier einzutreten. Murrend fügt er sich dem stärkeren Willen und trollt sich wieder in seinen schmutzigen Winkel mit selbstgegrabener Mulde hinter dem Blechtor, noch einen letzten fragend-halbherzig empörten Blick auf sein Herrchen werfend.

Vor uns also liegt ein eingeschossiger Bau, die Tür führt in einen langen Flur, von dem rechts und links Kammern abgehen. Eine Treppe führt aufs Dach, dort oben ist noch ein kleiner Aufbau zu erkennen. Der erste Raum rechts ist wohl das Schlafzimmer der Familie, Großeltern, Kinder, Enkel, eigentlich ist es nur ein wilder Haufen aus Matratzen, Kleidern, etc. Wenn ich hier nicht gerade in den Bergen wäre, wäre meine spontane Assoziation eine Obdachlosenunterkunft in einem Abbruchhaus irgendwo in Berliner Hinterhöfen. Nun gut, nicht mein Zimmer. Links ist offensichtlich die Wohnküche permanenter Aufenthaltsort der verhutzelten Alten, die zwar wie ein Modell für eine Karikaturpostkarte von Bergbewohnern aussieht, aber überströmend nett ist, zwar kein Wort einer gemeinsamen Sprache spricht, dafür umso überströmender gestikuliert und einen auf das herzlichste willkommen heißt.

Der letzte Raum auf der linken Seite des Ganges, gleich neben dem Badezimmer (ein Eck des Zementbodens mit Ausflußöffnung nach draußen, ein Plastikeimer, kein Wasser) ist das mir zugedachte Gästezimmer, offensichtlich der schönste Raum des ganzen Hauses. Drei matratzenartige Polster von ca. 50 cm Breite und 1.80 m Länge liegen entlang der Wände, jedes mit zwei Zierkissen darauf und einem niedrigen Tischchen aus bemaltem Holz davor. Und – oh Wunder, es gibt sogar eine nackte Glühbirne, die von der Decke baumelt, das läßt auf Strom für meine Kamera-Akkus hoffen, und in der Tat, dort ist eine echte Steckdose für Rasierapparat etc. Und – Luxus pur in der Bauernkate – unter die Holzbalken der Decke ist sogar mit Reißzwecken ein Zierstoff gespannt. Genauere Inspektion visuelle der Polster in einem unbeobachteten Moment ergibt, daß man es offensichtlich wagen kann, hier den Schlafsack auszurollen. Nur der Geruch der Polster ist äußerst gewöhnungsbedürftig, und leider überträgt er sich auf den Schlafsack.

Ernüchterung bietet wiederum die vollökologische ladakhische Trockentoilette: Über ausgetretene Stufen aus luftgetrockneten Ziegeln, ein im übrigen sehr haltbares Material, aber unter den täglichen Tritten der Bewohner doch halsbrecherisch abgerundet, geht es auf das Dach eines kleinen Anbaus, wo von vier Türen eine schon einladend offensteht. Geruch und die großflächig vorhandene braune Patina bestätigen die Angaben des Bauern. Tags weist die braune Spur den Weg, nachts der Geruch. Vielleicht liegt es am ersten Mal, vielleicht an noch an mir anhaftenden Vorstellungen, vielleicht noch an unzureichendem Eintauchen in die Bedingungen des Landes, jedenfalls schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, möge ich nie so verzweifelt sein, dieses Loch benutzen zu müssen, lieber implodieren. Wie unangemessen doch eigentlich unsere Vorstellungen sind: Eigentlich ist diese Methode wirklich voll ökologisch, keine verseuchten Flüsse, kein zu Abwasser verschwendetes wertvolles Trinkwasser, und man gewinnt Dünger. Um wieviel ekliger ist es regelmäßig jedes Frühjahr an den Moseldörfern, wenn das Hochwasser zurückgeht und das graue Klopapier in langen Fahnen die Büsche und Bäume des Ufers „verziert“. Also hier hängt kein Klopapier in den Aprikosenbäumen. Doch eine ladakhische Trockentoilette sollte man auch richtig anlegen: Der untere Raum muß durchlüftet werden, idealerweise durch gegenüberliegende Fenster, und im oberen Raum sollte immer ein Sandhaufen mit Schippe bereitlegen, um nach verrichtetem Geschäft eine Schaufel Sand hinterherzuwerfen. Beides sucht man hier.

Wir verabreden uns fürs Mittagessen, vereinbaren Reis, glaubte ich zumindest, stattdessen kommt exzellentes Chapati, wo man bedenkenlos zugreifen kann, denn diese kommen frisch aus dem hauseigenen Küchenofen, außerdem – so verrußt, wie es schmeckt, fühlt sich garantiert kein Bakterium mehr wohl. Dazu gibt es aus einem Glas, das sich als Vorführobjekt einer beliebigen Spülmittelwerbung eignete, Zustand „vorher“, einen Tee. Ich bin leidenschaftlicher Teetrinker, aber diese Sorte kannte ich noch nicht: Farbe Braun, Aroma Null, wohl der Aufguß vom Aufguß vom Aufguß vom Tee, dazu mit schwimmenden und an der Glaswandung hochkriechenden Fettaugen oben und Sediment ungewisser Konsistenz unten. Indische Tees werden ja gerne auch mit Milch serviert, das hätte wenigstens noch das Sediment verbrämt, wobei eigentlich jedes Verfahren der Geschmacksverbesserung vergebliche Liebesmüh ist, solange diese Fettlinsen oben schwimmen. Wohl gemerkt, wir sprechen von Tee, dem edelsten aller Getränke, nicht von Suppe oder Brühe. Was aber alles unwichtig ist angesichts der überströmenden Herzlichkeit der Dame des Hauses, denn die Leute kümmern sich wirklich rührend um den Hausgast.

Sehr verständnisvoll und eilig erfüllen sie mir den Wunsch nach frisch abgekochtem Wasser als Tagesration für die bevorstehenden Wanderungen. Ganz diensteifrig wird es in der Küche zubereitet und mir gebracht; sicherheitshalber werfe ich aber noch eine Micropur hinein. Als ich die Flasche am Nachmittag nach schweißtreibender Wanderung auspackte, überlegte ich jedoch, ob der Bergbach nicht die bessere Alternative sei – die gesamte Flüssigkeit hatte so eine Art Phasentrennung durchgemacht, und überall im Wasser schwammen weißliche Flocken fettiger Konsistenz. Nun ja, vom Micropur bestimmt nicht. Wohl gemerkt, wir sprechen von Trinkwasser, nicht von Suppe oder Brühe. Also Bergbach.

Vom Homestay zum Kloster hoch ist es schon eine hübsche Strecke, der Weg zieht sich weiter, als man geschätzt hätte. Überhaupt fällt mangels Dunst das Schätzen von Entfernungen schwer. Auf dem breiten Weg sind es ca. eineinhalb Stunden strammer Marsch, querbeet durchs Gelände über Trampelpfade ca. eine Stunde, aber entsprechend durchgeschwitzt und k.o. Was aber nichts macht, denn in der trockenen Luft trocknet alles schnell wieder. Kein Vergleich mit dem schwülen Klima im indischen Flachland, wo man nach wenigen Kilometern das Gefühl hat, mit jedem Schritt mehr zur Ganzkörperpfütze zu werden. Hier fühlt man sich dagegen ganz anders leistungsfähig, und Schweiß trocknet schnell, so daß man den Flüssigkeitsverlust gar nicht so wahrnimmt, nur am Abend zeugen die ausgedehnten Salzkränze in der Kleidung von den Anstrengungen des Tages.

Die Lage des Klosters am oberen Ende der kilometerlangen Oase ist überwältigend schön, vor einer gigantischen Bergkulisse erhebt sich das verschachtelte Konglomerat aus Felsen und Kult- und Nutzbauten, wie ein Haufen schneeweißer hoch aufgetürmter kleiner Schachteln, das ganze Tal beherrschend. Ich bin zweimal hoch, einmal vormittags, einmal nachmittags. Man weiß kaum, welcher Anblick schöner ist. Vormittags scheint die Klosteranlage fast an die tief hängenden Wolken zu stoßen, so stellt man sich einen Sitz der Götter vor. Die Augenblicke, in denen die Sonne durchkommt, sind optimal für die ostwärts ausgerichteten Haupteingänge der Kulträume. Nachmittags hat man die Talseite des Klosters in schönstem Licht, leuchtende Fassaden, und abends erglühen die Fassaden im goldenen Licht mit reichlich Schattenwurf der kubischen Teilelemente, während dahinter und darunter das Tal schon von den ersten Schatten der Berge erfaßt und immer mehr verdunkelt wird, während oben noch die strahlende Anlage wie eine funkelnde Krone über das Tal wacht. Man muß das Kloster wirklich zu verschiedenen Tageszeiten besuchen und den langen Weg aus dem Tal mehrfach wandern, jedesmal ist die Komposition aus Licht und Fels eine andere, und alle sind atemberaubend aufregend, ein Gourmet-Fressen für den Photographen.

Oben angelangt, führt ein enger Weg zwischen den steil aufragenden Bauten aus verschiedensten Jahrhunderten in den zentralen Tempelhof. Es ist wahnsinnig, daß in so einem aufgetürmten Konglomerat noch Platz ist für einen richtigen Hof, der für Gelugpa-Klöster dieses Stils zwingend notwendig ist zwecks Abhaltung der Festspiele. Seine Wände sind innen mit den acht Glückssymbolen des Buddhismus bemalt, auch dieses ein typisches Merkmal. Wenn man sich im Hof nach Westen wendet, steht man vor der Hauptfassade des großen Versammlungsraumes, der über einen Treppenaufgang zu erreichen ist. In der kleinen Veranda erzählen szenische Darstellungen aus Buddhas Leben. Innen ist der Raum wunderschön geschmückt mit zahlreichen Buddha-Darstellungen. Nördlich davon befindet sich der zweite wichtige Kultraum, hier ist die kleine Loggia vor dem Eingang mit dem Rad der Lehre und den vier Lokapalas geschmückt. Innen befinden sich phantastische Wandmalereien. Aber hier fordert der schnelle Aufstieg in der dünnen Luft erst einmal seinen Tribut. Über enge Treppen gelangt man auf die flachen Dächer der Klostergebäude, kann rings um den Festspielhof auf den Dachterrassen entlanglaufen und den Blick über das Tal schweifen lassen, oder senkrecht hinab blicken auf das unregelmäßige Flickenwerk der Dächer der tiefergelegenen Wohnbauten mit Einblick in den Alltag der Bewohner. Bis zur Abtswohnung und zu den höchsten Dächern kann man steigen, hier oben schon fast Auge in Auge mit dem im Nordwesten stehenden großen Buddha, aber nur fast, denn er ist um 90 Grad gedreht.

Beim Weg zurück gerate ich in eine Gruppe von Schulkindern, die begeistert sind, mich vollquatschen zu können. Vor lauter Neugier und Begeisterung stolpert ein kleiner Junge über einen Stein und fliegt lang hin. Große Besorgnis meinerseits, denn Pflaster und Jodsalbe liegen weit weg in meinem Rücksack in der Unterkunft. Nähere Untersuchung des Fußes ergibt aber, daß hier keine weitere Hilfe nötig ist. Das ist aber dennoch ein feines Erlebnis, so von einem fremden Fachmann am Fuß untersucht zu werden – denn er rennt los und stolpert nun absichtlich schon wieder direkt vor mir, um nach genauestem Blick auf Haut und Knochen wieder zu erfahren, daß alles ganz harmlos ist. Kann ich jetzt meinen Weg fortsetzen? Mitnichten, ein neues Spiel ist geboren, und die ganze Clique spielt mit, schmeißt sich auf den Boden, und wenn man es – vielleicht absichtlich? – nicht mehr gleich bemerkt, läuft man los, greift kurz nach meiner Hand und läßt sich direkt vor meine Füße fallen und jammert los. Feines Spiel! Erst als die auf dem Feld arbeitenden Erwachsenen mal kurz ein Machtwort rüberrufen, rast die ganze Bande los nach Hause. Ich denke, da wird’s ein Donnerwetter geben, denn die hatten natürlich nicht ihre Bauernkluft, sondern ihre feinen Schulklamotten an, die normalerweise gleich nach Eintreffen zu Hause fein säuberlich aufgehängt wird und gegen Funktionaleres für Feld und Spiel gewechselt wird. Und eben diese Schulhosen hatten mittlerweile das Spiel weniger gut überstanden als die Knirpse darin.

Am schönsten ist der nun nach besserer Kenntnis des Geländes direkt durch die Geröllfelder und Bachtäler, auf Trampelpfaden an Hütten und Bewässerungskanälen entlang gewählte Weg abends zurück zur Unterkunft, ständig rückwärts blickend und das im goldenen Licht der untergehenden Sonne erstrahlende Klostermassiv bestaunend.

Zurück in der Unterkunft, die im letzten Licht der untergehenden Sonne erreicht wird, trifft der vorher erbetene Pferdeführer ein, der mich die nächsten Tage zwecks Beförderung meines Gepäcks begleiten soll. Ein Schrank von Mann, einfach, aber eine Frohnatur, Muskeln wie ein Bär, ständig lachend. Doch schnell wird umverhandelt. Aus dem Pferd ist mittlerweile ein Esel geworden. Und so ganz glücklich ist er nicht, daß er nur einen Touristen begleiten soll. Nie ist jemand glücklich über nur eine Person. Doch seine Argumente kann ich nachvollziehen: Mit nur einem Gepäckstück würde das Transporttier ungleichmäßig beladen werden, und dadurch würde der Gang unsicher und überhaupt sei das für das Tier nicht gut. Lieber würde er einfach meinen 20 kg-Rucksack selber tragen. Schock! Aber ich habe sofort die gute Idee, a) den Rucksack und b) den diesen schützenden Überzug als zwei getrennte Gepäckstücke zu verwenden und packe alles schnellstens um, das Gewicht gleichmäßig auf beide Gepäckstücke verteilend, denn auf keinen Fall will ich die beabsichtigte Wanderung gefährdet sehen, während der ehemalige „horse-man“, jetzige „donkey-man“ und baldige „nur-man“ ein gemütliches Schwätzchen in der Wohnküche bei vielen Gläsern Buttertee hält.

Das Abendessen findet in der Wohnküche statt. Und hier ist jetzt die Familie komplett: Der Hausherr ist 25, er hat einen 10jährigen Sohn, dazu zwei Großmütter – falsch: Mutter und Großmutter. Ich traue mich nicht zu fragen, welche welche ist, das wäre wohl nicht so gut angekommen. Beide in die gleichen blauschwarzen Umhänge mit roten Elementen gekleidet, beide gleichermaßen verrunzelt und voller tiefer Furchen im Gesicht, beide gleichermaßen silberhaarig mit lang auf den Rücken fallendem Zopf, beide fast den gleichen Schmuck aus Silber und Türkisen um den Hals und in den Ohren tragend. Und beide anscheinend doch nicht gleich alt. Hier altert man schnell, und die trockene Luft sowie das winterliche Klima graben schnell Furchen in die Gesichter.

Eine dieser verhutzelten, aber total liebenswürdigen Frauen kniet vor dem Herdstein und bereitet für jeden einen Teller subventionierten Reis und Gemüse aus eigenem Anbau zu. Der Herd ist ihr Revier, ihr Prunkstück, das Herz des Hauses. Überhaupt ist die Küche der einzige Raum, in dem wirklich gewohnt wird und der nennenswert eingerichtet ist. Alle anderen Räume sind irgendwie funktional oder reine Ablagen, oder Ausnahmeräume wie das Gästezimmer, hier dagegen kommt man abends zur Ruhe, trifft man sich, unterhält man sich, und im Winter ist die Wohnküche der einzig wirklich benutzbare Raum, in dem sich alles versammelt und sich wärmt, inklusive Tiere, und auch schläft. Und 90 Prozent des Inventars sind in der Küche zu finden. Vor allem ein riesiges Wandregal mit allerlei Töpfen, Brätern, Kannen, Vorratsbehältern und Thermoskannen. Diese Sammlung steinerner, kupferner, messing- oder aluminiumgefertigter oder gläserner Utensilien ist sichtlich der Stolz des Haushaltes. Die Sammlung in diesem Umfang ist wohl auch zum Großteil einfach Dekoration und soll Wohlstand ausstrahlen. Wer seinen Teller hat, fängt an, warten wird hier nicht gern gesehen. Beim Essen lernt man sich auch etwas näher kennen, der Hausherr ist stolz darauf, daß hier alles Gemüse aus eigenem Anbau stammt.

Man geht früh ins Bett, die Feldarbeit ruft am nächsten Morgen zeitig aus den Federn. Ich richte mich in dem Zimmer minimal ein. Wie definiert man sauber? Ist es steril, ist es frei von mit bloßem Auge erkennbaren Unreinheiten oder ist es einfach das unter gegebenen Umständen Bestmögliche? Hier trifft wohl eindeutig letzteres zu, denn jede Berührung mit irgendwas hinterläßt einen staubigen oder fettigen Abdruck. Und das Aroma dieser Matratze werde ich wohl auch nie vergessen und trage es seitdem im Schlafsack mit mir herum.

Die Nacht kommt, und mit ihr kommen die Probleme. Waren es die Willkommenskekse, die zwar offensichtlich wochenlang offen herumgestanden haben, die man aber ganz und gar unmöglich ablehnen konnte? War es das Glas? Oder war es einfach „Indien“? Tatsache ist, ob ich will oder nicht, und eigentlich will ich von ganzem Herzen nicht, ich werde den Schlund der Hölle brauchen. War nicht immer meine Rede: Wer in Indien war und keinen Durchmarsch hatte, war entweder nicht richtig in Indien oder lügt. Hoffen wir nur, daß ich mit dem einen Mal der indischen Hygiene ausreichend Respekt erwiesen habe und daß mich das jetzt nicht sieben Tage lang verfolgt. Auf denn – Hose lasse ich gleich im Zimmer, so wenig wie möglich kontaminieren. Mit meiner Funzel in der Hand immer dem Geruch nach über den Anbau und los geht’s, Wertsachen fest umklammert an diesem Ort des Nimmerwiedersehens, der Ohnmacht nahe wegen des Geruchs des Ortes, einzig lebendig hält die Sorge, irgendwo anzustoßen. Was, wenn der Raum darunter voll ist, den man durch dieses aus Brettern herausgesägte Loch im Boden füllen hilft? Einfach zumauern zur Überraschung zukünftiger Archäologen? Nein, nach einiger Zeit der Kompostierung (wofür auch eine hinreichende Durchlüftung hilfreich wäre) wird es als Dünger auf die Felder ausgebracht. Tapp, tapp, tapp, zurück, Hund beruhigen, und nach dieser Expedition erscheint selbst der Geruch der Matratze wie der einer Blumenwiese, und das will etwas heißen.

Auf Bitten bekomme ich am nächsten Morgen Wasser zum Waschen, es wird aus dem nahen Bach geholt und in einen Bottich aus Plastik gekippt. Also Katzenwäsche, irgendwo in einem staubigen Zementviereck mitten im Flur des Hauses. Sehen wir es positiv: Hier weiß man, wieviel Wasser man zur Verfügung hat, während es einem in einem Hotel größerer Orte durchaus passieren kann, daß der Inhalt des Wasserbottichs auf dem Dach mitten beim Duschen zur Neige geht, wenn die Wasserträger nicht rechtzeitig nachgefüllt haben, und man eingeseift warten muß, bis nachgefüllt wurde. Im Grunde ist eine Dusche hier in diesem Landstrich eine fast unangemessen zu nennende Illusion.

Nach dieser Nacht ist ein Großteil gewohnter Zivilisation von mir abgefallen. Man braucht immer erst einmal, um sich den Umständen anzupassen, und man ist erstaunt, wie schnell man von eigenen Vorstellungen Abstand nimmt, wenn es die Umstände erfordern. Egal ob das eine Wanderung durch den thailändischen Dschungel oder das ladakhische Hochgebirge ist, allein die Erlebnisse sind wichtig. Nach dem Anziehen überkommt einen ein gewisses Siegesgefühl, erfolgreich im einfachen Landleben angekommen zu sein. Ist das Abstreifen gewohnter Verstellungen und Gewohnheiten ein Zeichen beginnender Gleichgültigkeit ihnen gegenüber oder einfach nur gesunder Pragmatismus?

Ladakh-Hauptseite

Literatur, Links und Quellen
Andere Länderessays lesen
Home

© Copyright / Urheberrecht Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2008
Impressum