Bernhard Peter
Angkor Wat

Angkor Wat, der größte, prachtvollste, ausgedehnteste Tempel der Ebene von Angkor, ist fast schon zum Synonym für dieselbe geworden. Allein die Dimensionen muß man sich vergegenwärtigen: Das architektonische Ensemble von Angkor Wat steht auf einer rechteckigen Insel von ca. 1000 m x 800 m Seitenlänge. Die Insel ist von einem breiten Wassergraben umgeben von 150-200 m Breite, über den eine einzige ebenso lange Brücke aus Stein führt. Der steinerne Damm wird von einer Balustrade mit Naga-Schlangen gesäumt, die jeweils 5 oder 7 Köpfe auf den fächerförmig aufgeworfenen Endstücken der Balustrade haben. Nagas sind zwar ursprünglich ein Hindumotiv, stehen aber auch für Regenspender. An der Rückseite der Insel (Ostseite) ist zwar ebenfalls ein Damm, aber nur aus gestampfter Erde und wahrscheinlich nur für Bauzwecke o. ä. Die zum Graben hinabführenden Ufer sind in Form steinerner Treppenstufen ausgeführt. Auf der Insel wird man von einer gigantischen Quergalerie empfangen. In der Mitte erhebt sich - etwas erhöht - der phantastische Haupteingang. Er liegt vor der dritten Mauer und besteht aus drei kreuzförmigen Gopuras, die von hohen, turmartigen Bauten bekrönt werden und durch Räume miteinander verbunden sind. Der mittlere Raum ist der größte und hat einen doppelten, gedeckten Säulengang. An den Enden der Galerie öffnen sich zwei weitere, ebenerdige Durchgänge für Elefanten und Karren. An den übrigen drei Seiten der Mauer finden sich weitere Durchgänge mit Gopuras; doch von einfacherer Bauart. Hinter diesem Querwerk führt der lange Weg über einen erhöhten Straßendamm zum eigentlichen Hauptheiligtum. Wenn man das Innere der heiligen Stadt betreten hat, trifft man auf eine fast 10 m breite, gepflasterte Straße, die 1.50 m höher liegt als das umliegende Terrain. Sie ist ca. 350 m lang und wird auch von Nagaschlangen-Balustraden gesäumt. In regelmäßigen Abständen gibt es sechs Treppen pro Seite, die zu den hier einst gelegenen Wohnhäusern in der Stadt Suryavarmans II hinabführen. Man kommt vorbei an zwei hinduistischen Bibliotheken, etwa auf der Hälfte der Straße befindlich, über 40 m lange Gebäude mit Kreuzgrundriß, drei 6 m breiten Schiffen und falschem Gewölbe, mit gedeckten Säulengängen an den vier Seiten, die man über Treppen erreichen kann, man kommt vorbei an zwei weiteren künstlichen 65 x 50 m großen Wasserbecken, vorbei an noch in Funktion befindlichen buddhistischen Klöstern rechts und links im Wald, bis man schließlich die äußerste Galerie betritt, die erste von dreien, die unterste Ebene von 3 sukzessive aufeinanderfolgenden. Beim Marsch über die Brücke und die mit Platten belegte Straße entlang der Hauptachse verinnerlicht man die ungeheuren Dimensionen dieses Bauwerks. Man läuft und läuft und läuft, hinter einem werden die Eingangsgopura immer kleiner, während das eigentliche Bauwerk mit seinen fünf pinienzapfenähnlichen Prasats nur langsam näherkommt.

Photogalerie Angkor Wat, Außenansichten

Schließlich erreicht man die Außengrenze einer 270 x 340 m großen Plattform. Sie ist ca. 1 m hoch und über drei Treppen je Seite zugänglich. Hier erhebt sich der wahre Tempel mit seinen drei Stockwerken, die von weiteren Galerien umgeben sind. Die Straße mündet in eine zweigeschossige, kreuzförmige Plattform. Die unterste Ebene steht auf kurzen, plumpen Pfahlsäulen und führt zum Haupteingang der dritten Galerie, welche die erste von drei Ebenen umgibt, auf welchen sich der Angkor Wat erhebt. Die dritte Galerie ist 187 x 215 m lang, hat falsche Gewölbe und wurde auf einem reich verzierten Sockel erbaut. Ihre blinde Innenwand hat falsche Säulenfenster und ihr äußerer Arkadengang mit Pilastern wird von einem gedeckten Halbschiff überdacht. In der Galerie öffnen sich vier axiale Eingänge. Der westliche besteht aus drei kreuzförmigen Pavillons, die durch rechteckige Räume miteinander verbunden werden und über Treppen zugänglich sind. Symmetrisch hierzu gestaltet sich die Ostseite. Die beiden anderen Eingänge bestehen nur aus einem kreuzförmigen Pavillon, jedoch mit Laubengängen und Treppen versehen. Auch bei der äußersten Galerie verwendete man den Kreuzpavillon mit Treppen und unterbrach dadurch die Horizontale durch die Vertikale der krönenden Dächer.

Photogalerie Angkor Wat, Reliefs der äußeren Galerie

Das Herzstück von Angkor Wat erhebt sich auf seiner dreistufigen Pyramide im Innern des Systems. Sein zentraler Turm ragt mehr als 60 m über der Ebene von Angkor auf.

Alles an diesem Bauwerk ist gigantisch. Allein die äußerste Galerie, die ein Flachrelief von 800 m Länge bietet. Mit diesen Dimensionen ist Angkor Wat das größte sakrale Bauwerk der Welt. Es sprengt jeden Rahmen: Es ist nicht nur das größte architektonische Ensemble in der Ebene von Angkor, sondern auch das berühmteste, das am aufwendigsten restaurierte, das am reichsten mit Reliefs ausgestattete, das am klarsten geometrisch gegliederte und das mit den höchsten Prasats. Knapp 4 Jahrzehnte Bauzeit schätzt man.

Photogalerie Angkor Wat, Ansichten der inneren Bereiche

Was von der gewaltigen Anlage ist nun sakral, was profan? Die gesamte Insel war die damalige Stadt, der eigentliche Tempel eine Art Stadt in der Stadt. Man schätzt sie auf ca. 20000 Einwohner. Die damals üblichen Holzbauten der Stadtbewohner sind heute natürlich verschwunden, auf diesen Flächen erstreckt sich ausgedehnter Sekundärwald. Der Tempel selbst war keine Andachtsstätte für das Volk, nein, der Zugang für das Volk endete an den gigantischen Reliefs der äußersten Galerie, die als Bilderbuch Ruhm und Glanz der Geschichte und der gegenwärtigen Herrscher Angkors verkündeten. Jenseits dieser Galerie war Heiligtum, Zutritt nur für Priester. Auf die oberste Ebene, die dritte, schließlich durften nur der höchste Prister und der König selbst, der sich mit dem Gott, dessen Statue im zentralen Heiligtum stand, identifizierte.

Aber die Funktion des Bauwerkes ist nicht nur die einer Kultanlage – es war als Grablege für den König Suryavarman II (1113-1150) geplant. Ursprünglich handelte es sich um hinduistischen Kult. Das Baumwerk ist entgegen üblicher Bauweise nach Westen orientiert und war Vishnu geweiht. Palast, Tempel, Mausoleum, Kloster oder göttliche Heimstatt – all das ist der Tempel von Angkor Wat. In der Erbauungszeit hieß er Brah Bishnulok oder Vishnuloka, "die heilige Heimstatt Vischnus". Er war von seinem Erbauer der dritten Gottheit des Trimurti geweiht, mit der sich König Suryavarman II identifizierte. Nach seinem Tod erhielt der große Herrscher den Namen Paramavishnuloka, "derjenige, der ins Paradies des höchsten Vischnu ging", und der Tempel wurde sein Mausoleum. „Angkor“ selbst bedeutet nicht mehr und nicht weniger als „Hauptstadt“. So mächtig war das Reich der alten Khmer, daß es sich erübrigte, zu sagen, welche Hauptstadt. DIE Hauptstadt eben des mächtigsten Reiches in Südostasien. Der heutige Name Angkor Wat bedeutet "Hauptstadt, die ein Kloster ist", denn nach der von Jayavarman VII. im 13. Jh. durchgeführten religiösen Revolution herrschte im Khmerreich der Buddhismus, und der Tempel von Suryavarman II wurde in ein Wat, umgewandelt. Wat ist thailändischen Ursprungs und bedeutet "buddhistisches Kloster“. Eine absolut fantastische lokale Überlieferung behauptet sogar, daß die Umwandlung des Angkor Wat in ein Kloster das Werk von Buddhaghosha, dem berühmten indischen Mönch, gewesen sei. Er soll mit den buddhistischen Schriften aus Sri Lanka zurückgekehrt sein und dafür den herrlichen Bau zum Geschenk bekommen haben. Jenseits der Legenden ist es der Umwandlung zu verdanken, daß der Angkor Wat niemals ganz aufgegeben wurde.

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne berühren den Tempel, dann nur noch den obersten zentralen Prasat, unter dem die sterblichen Überreste des großen Königs ruhten, wie als letzten Gruß, und unterstreichen damit die Bedeutung als Grabmal. Heute sind die Räume buddhistisch geprägt, und im Wald beiderseits der Hauptstraße befinden sich buddhistische Klöster. Und innen sind statt Vishnu viele Buddhastatuen zu finden, die häufig von Gläubigen aufgesucht werden.

Der Tempel ist perfekte Geometrie. Doch seine wahre Perfektion liegt in einigen architektonischen Kniffen. Zum Beispiel haben wir es der Tatsache, daß die Straße zwischen Eingangspavillon und Tempel fast doppelt so lang ist wie die Fassade, zu verdanken, daß wir das Bauwerk trotz seiner gigantischen Dimensionen mit einem Blick erfassen können. Ferner ist jede der drei Terrassen doppelt so hoch wie die jeweils vorhergehende und von der Fläche her mindestens um die Hälfte kleiner, dadurch wird vermieden, daß eine tiefer liegende Galerie die höherliegende verdeckt. Nur so kann der Betrachter den Anblick einer perfekten Pyramide genießen. Dazu ist jede Terrasse gegenüber der darunterliegenden leicht nach Osten (hinten) zurückversetzt. Wenn das nicht so wäre und man das Bauwerk aus großer Entfernung anblickt (wozu schon der Eingangsgopura ausreicht), schiene das Monument nach vorne zu kippen. Aber durch das Zurückversetzen wird das optisch korrigiert, so daß man auch aus weiter Entfernung bei der Annäherung an den Tempel perfekte Harmonie wahrnehmen kann.

Auf der anderen Seite überrascht in dem Bauwerk auch eine gewisse Gegensätzlichkeit. Wir haben sowohl die feinsten, fast brokatähnlich die polierten Sandsteinwände überziehenden Dekor, als auch andererseits die rohe Gewalt tonnenschwerer Steinblöcke, die manchmal mit recht großen Zwischenräumen aufeinanderliegen. Wir haben einerseits eine hochentwickelte, perfekte geometrische Komposition dieser Architektur, andererseits ist im ganzen Bauwerk nicht ein einziges echtes Gewölbe zu finden. Es wird konsequent vermieden, weite Räume zu überspannen, und die Galerien werden in Form von Kragsteingewölben oben abgeschlossen. Außen sind die Dächer gerundet und sogar gerippt, manchmal auch in Ziegelimitat behauen. Innen ragen jedoch die roh behauenen Steine so in den Raum herein, wie sie eingebaut wurden, ohne Glättung o. ä. Man geht davon aus, daß die Galerien mit hölzernen Kassettendecken verschlossen waren und die rohe Dachzone verborgen war, in einigen Teilen der umlaufenden ersten Galerie ist eine solche hineinrekonstruiert worden. Weiterhin fällt auf, daß wir zum einen gigantische Raumfluchten haben, die Galerien mit den Kreuzungsräumen und Eckräumen gestatten Durchblicke von Hunderten von Metern. Andererseits kann man diese Fluchten nicht durcheilen. Jeder Raum für sich ist auch von den Raumebenen wie ein kleiner Zentralbau geschaffen, den man nur durch Überklettern von hohen Schwellen wieder verlassen kann. Wenn man die ganze Länge durchschreiten möchte, gestaltet sich der Weg als ein ständiges Auf und Ab und besteht fast nur aus Schwellenklettern.

Der Tempel ist steingewordene Kosmologie, ist ein Abbild des hinduistischen Weltbildes. Die Khmer-Könige beabsichtigten nicht mehr und nicht weniger, als in ihrer jeweiligen Hauptstadt das Zentrum der Welt nachzubauen, die Organisation des Universums abzubilden und sich selbst darum zu gruppieren. Wer kann es ihnen verdenken? Zur Blütezeit von Angkor war die Ebene der Hauptstädte von ca. 1 Million Menschen bewohnt – Angkor war die größte Stadt weltweit zur damaligen Zeit. Ferner war das Khmer-Reich eines der mächtigsten Reiche in Asien, dessen Einflußbereich z. B. bis weit ins heutige Thailand hineinreichte. Daß sich so eine Macht gerne mit den Attributen der Weltordnung schmückt, liegt nahe.

Gehen wir einmal von dem Weltbild klassischer hinduistischer Kosmologie aus: Die Welt besteht aus unser Welt, darunter die Unterwelten, darüber die Himmelsebenen. Unsere Welt besteht aus konzentrisch angelegten Kontinenten, die durch die Ozeane voneinander getrennt sind. Der äußerste Ozean ist der Milchozean, durch dessen Quirlung die Welt in der Schöpfungsgeschichte entstanden ist. Im Zentrum des innersten Kontinentes steht der Weltenberg Meru. Die Götter haben ihren Wohnsitz auf ihm, die Gestirne kreisen um ihn herum, so auch die Sonne. Und wo der Schatten des Weltenbergs hinfällt, ist gerade Nacht. Und durch diesen Weltenberg erstreckt sich die vertikale Achse, welche die Ebenen des Universums untereinander verbindet.

Vergleichen wir das mit der Architektur: Die Welt ist die rechteckige Insel, umgeben vom Ozean des Wassergrabens. Die Galerien des Tempels machen die konzentrische Struktur der Welt deutlich, ferner kann man die Galerien als Gebirgsketten sehen, die den Weltenberg einrahmen, die Türme symbolisieren Wohnsitze der Götter. Der Tempel wird bekrönt von einem zentralen großen Prasat von 42 m Höhe, Abbild des Weltenberges, Wohnsicht der Götter – der Gottkönig Suryavarman II hat genau diese Stelle als seine letzte Ruhestätte bestimmt. In dieser zentralen Achse laufen alle nichtkonzentrischen Linien und Achsen des Bauwerkes zusammen, von hier aus nimmt alles seinen Ausgang, von hier aus laufen die Achsen wieder fort in die Unendlichkeit der urwaldbestandenen Ebene. Und die vier anderen Prasats außenherum stehen zu ihm wie die Planeten um den Weltenberg kreisen.

Ob man an das System glaubt oder nicht – keiner kann sich beim sukzessiven Besteigen der Ebenen dem Banne dieser Geometrie entziehen. Zum einen ist es die Veränderung des Bildes und auch der Wahrnehmung beim Höhersteigen, von Ebene zu Ebene, bis man auf der höchsten Galerie der obersten ebene angekommen ist und durch die Steinsäulenfenster auf den Urwald ringsum und die unter einem liegende steinerne Symbolik von Ordnung blickt. Was Petrarca beim Besteigen des Mont Ventoux empfand, ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Bewußtseinserweiterung beim Besteigen von Angkor Wat. Mit jeder Ebene, die man durchschreitet, mit jeder Galerie, mit jedem Tor, mit jeder Stufe findet ein Prozeß statt. Man wechselt zwischen dem Verharren auf einer Stufe beim Durchwandeln der Galerien und dem Aufstieg in eine neue Sphäre beim Aufstieg in die nächste Bauwerksebene. Mit jedem Beteten einer neuen Ebene streift man etwas ab, läßt etwas hinter sich, ist wieder offen für Neues, mit jedem Durchwandeln der Gänge und Betrachten der Reliefs füllen wieder neue Bilder und Zusammenhänge das Bewußtsein. Der weg zum Gipfel wird zu einem persönlichen Prozeß: Man streift die Alltäglichkeiten auf dem Weg zum Mittelpunkt der Welt von sich ab, man läßt die seelischen Hüllen fallen, die Seele schreit nach Befreiung und Begegnung mit dem Ursprung, dem Punkt, an dem alle Achsen zusammenlaufen und ihren Ausgang haben. Die Seele wird immer mehr geweitet beim Besteigen, man spürt die Geometrie unter seinen Füßen und sich auf dem Weg zum Mittelpunkt derselben. Und oben fühlt man sich verschmelzen mit der ungeheuren Kraft, die das Netz aus Achsen und Linien hier in sich vereinigt, man spürt soviel Energie aus der Position heraus, aus der Teilhabe an der kosmischen Ordnung, daß man es da oben mit jedem Gewitter aufnehmen könnte, daß man selbst das Aufziehen eines solchen mit einem gewissen Mutwillen herbeisehnt, im tiefen Bewußtsein dessen, daß man als Teil der Energieströme dieses Bauwerkes fähig ist, mit der Dramatik des Ortes zu verschmelzen. Dramatik des Ortes ist es in der Tat, wenn der nächsten Regenwolken Schwärze über den tief unter einem liegenden Kronen der Urwaldbäume heranzieht und der Wind durch die offenen Fenster pfeift. Man ist den Gewalten der Natur nahe, man möchte sie spüren und ihre Kraft in sich aufnehmen.

Ich notierte damals oben in der Galerie, den Blick über den Urwald und die Bauten unter mir genießend, links von mir eine herrlich fein gezeichnete graziöse Apsara mit ihren sinnlich dick aufgeworfenen Lippen, rechts ein Fenster weiter zwei junge Mönche in orange, die ihren Spaß an der Begeisterung derjenigen hatten, denen die Anwesenheit in dieser Kathedrale der kosmischen Ordnung nichts Alltägliches ist, in meine Kladde: „Wenn man sich im Herzen des Universums befindet: Man nimmt die Kraft auf, die aus allen vier Himmelsrichtungen entlang der sichtbaren Marksteine der Unendlichkeit angesaugt wird und einen emporträgt auf die höchste Terrasse der Architektur wie der Empfänglichkeit dem Absoluten gegenüber. Hier bleibt alles draußen, was nicht teil hat am Absoluten. Man legt mit jeder Stufe des Emporklimmens die allzu irdischen Begleitumstände ab. Jeder Schritt nach oben reinigt das Denken von dem, was sich nicht dieser absoluten Kosmologie einfügt. Oben schweift der Blick über den Urwald, über die Linien, die die übrige Welt in dieses Kraftzentrum einbinden. Alles ist Ordnung, ist System, ist Geometrie. Man genießt den Wind der Harmonie, der einem aus den Weltenrichtungen entgegenweht. Der Gipfel, das Zentrum der Kräfte und Linien ist wie ein Nadelöhr, durch welches das Bewußtsein wie durch eine Bewährungsprobe geht. Nach dieser elementaren Reinigung des Bewußtseins verspürt man die unendliche Freiheit neuen Denkens, neuen Elans, erneuerten Gefühls und den Wunsch, die Kraft, an der man hier oben teilhaben durfte, beim Hinuntersteigen in seinem eigenen Leben wirken zu lassen.“

Über den aus den Giebeln des Vorraumes und der Laubengänge der dritten Ebene bestehenden Stützen erhebt sich der zentrale Prasat über weitere vier Stockwerke, die gekrönt werden von drei Ringen aus Lotosblütenblättern, und den Abschluß bildet eine Lotosknospe. Die vier Eckprasats nehmen die Form des zentralen wieder auf, sind jedoch kleiner. Die Fläche zwischen den vier Außen-Prasats ist aufgeteilt in 4 Innenhöfe, quadratisch, mit Sandsteinplatten belegt. Der mittlere Prasat überragt die oberste Ebene noch einmal um 42 m.

Die Dekorationen sind atemberaubend. Auf unterster Ebene zu erwähnen das 800 m lange Flachrelief, dessen Beschreibung hier jeden Rahmen sprengen würde. Es sind die längsten zusammenhängenden Flachreliefs der Welt. Es werden Begebenheiten aus der Geschichte des Khmerreiches und mythologische Inhalte wiedergegeben. Szenen aus den Epen Ramayana und Mahabharata werden ebenso wie große Schlachten dargestellt. Zu erwähnen sind ferner die Tausende von Fenstersäulen, die zwar aus Stein sind, aber so zierlich in Ringen und Facetten gearbeitet sind, daß sie wie gedrechselt wirken. Teile der Wände sind glatt poliert und wie mit feinen Brokat-Tapeten mit Rankwerk überzogen. Die Außenwände sind Imitationen der Dachziegel und bilden diese bis ins kleinste Detail nach. Über 1500 weibliche Gottheiten (Devatas) und Apsaras, Tempeltänzerinnen, schmücken den Tempel. Wir finden sie auf nackten Wänden, in Nischen, auf freien Flächen der unzähligen Pfeiler, woanders lächeln sie rätselhaft vor dem Hintergrund blühender Bäume. Die Apsaras sind allgegenwärtig. Durch die vielfältige Kombination von verschiedenen Kopfbedeckungen, Haartrachten, Kleidern und Gestik entstehen Hunderte individueller Bilder, keine Apsara scheint identisch mit einer zweiten zu sein.

Photogalerie Angkor Wat, Apsaras (1)
Photogalerie Angkor Wat, Apsaras (2)

Ganz wild geschmückt sind die Giebel: Gewundene Nagas schließen die Dächer ab und lassen die Umrisse weicher erscheinen, während sich auf den Tympana mythologische Szenen mit zahlreichen Gestalten vor dem einförmig grauen Hintergrund der Sandsteindächer abheben.

Eine wichtige Rolle spielt auch die Zahl 12 in dem Bauwerk. Die fünf Prasats des zentralen Heiligtums sind nicht die einzigen Turmheiligtümer des Angkor Wat. Auch die Ecktürme der zweiten Galerie sind Tempel mit turmartigen Bekrönungen, und auch die drei Türme über den Eingängen der äußersten Mauer kann man mitzählen und kommt auf 12 Türme/Prasats. Zwölf (2x6) Treppen gibt es auf der zweiten Zugangsstraße, desgleichen auf der Plattform des wahren Tempels und wieder genau zwölf Treppen, um auf die dritte (oberste) Ebene zu gelangen und die dritte Mauer hat zwölf Eingänge. Die 12 Treppen hinauf zur dritten Ebene sind mit ihren 40 Stufen extrem steil, sie haben einen Neigungswinkel von ca. 70 Grad. Vielleicht hatte diese Zahl eine besonders umfassende Bedeutung, die über die Verbindung mit den Tierkreiszeichen und den Tieren des chinesischen Kalenders hinausging.

Alles in allem schuf das Khmerreich sich auf dem Gipfel seiner Macht ein vollendetes Abbild der Welt, ließ den Traum vom Paradies auf Erden sichtbar werden und schenkte der Menschheit ein Meisterwerk von höchster Harmonie.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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