Bernhard Peter
Die schwimmende Welt am Tonle Sap

Nur wenige Kilometer von Angkor und Siem Reap gelegen, ist der Tonle Sap ein großes Becken im Herzen von Kambodscha. Der See Tonle Sap wird von einer riesigen fruchtbaren Ebene umgeben, die entsprechend dem amphibischen Charakter der Landschaft hauptsächlich dem Reisanbau gewidmet ist. Wie deplaciert ragen nur wenige Erhebungen aus der Ebene heraus, direkt am Ufer z. B. ein kleiner Berg, gekrönt von einem alten Khmer-Tempel vom Typ der alten Bergtempel. Ich war im September da, mitten in der Regenzeit, der Wasserspiegel war noch am Steigen, bald wird der Berg zur Insel. Die weite Ebene außen um den Tonle Sap wird von Kanälen und vielen kleinen Flüßchen durchzogen, stille Gewässer voller Lotus-Pflanzen, deren reine Blüten sich aus dem schlammigen Wasser erheben. Schon immer hat die Menschen fasziniert, wie diese Pflanze, im den größten Drecklöchern wurzelnd, sich scheinbar unbefleckt daraus erhebt. Nicht ohne Grund ist die Lotusblüte zum Symbol der Reinheit geworden, zum transzendenten Bild der Geburt von Welten und Göttern – Oh Juwel aus der Lotusblüte! Erst vor wenigen Jahren wurde der Grund für diese Reinheit gefunden: Als Lotos-Effekt ist bekanntgeworden, daß fein genoppte Oberflächen viel besser schmutzabweisend sind als ganz glatte.

Obwohl nicht weit von der durch Tourismus wohlhabend gewordenen Stadt Siem Reap entfernt, herrschen hier gänzlich andere Lebensbedingungen. Keine reichen Stein- oder Teakhäuser (meist dient das Erdgeschoß als offener Stall mit Schuppen, nur das Obergeschoß ist richtig ausgebaut und ist im Falle einer Überschwemmung sicher auf seinen Stelzen) mehr wie in den ersten Dörfern hinter Siem Reap noch, sondern einfache, luftige Hütten auf 6-9m hohen Stelzen mit Wänden aus luftigen Bambusmatten sowie armselige kleine Hütten bestimmen das Bild der Dörfer auf dem Weg zum See.

Zum eigentlichen Ufer (Was heißt Ufer? Ein Ufer im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Die Uferlinie wandert im Jahresrhythmus, und die Landschaft wird kontinuierlich immer amphibischer) führt nur noch eine Straße bzw. holprige Piste. Der Weg ist gesäumt von kleinen Hütten, einfachste Konstruktionen: Ein Rahmen aus Bambus oder Holz, zwei Flechtmatten (Palmwedel) als Dach, 4-6 Flechtmatten als Wände. Schnell auf- und abzubauen, wenn man den Wohnsitz verlegen muß. Alles macht einen sehr provisorischen Eindruck. Irgendwo auf der Matte, die als Vorderwand dient, ist mit roter Farbe eine Hausnummer aufgepinselt. Auf der erhöhten Bodenkonstruktion spielt sich das gesamte Familienleben ab, für jeden Passanten einsehbar: Dort schaukeln die Bewohner in den Hängematten, hier liegen dösende Männer, woanders kochen Frauen mit gußeisernen Pfannen, buntem Plastikgeschirr und Unmengen von Plastiktüten (der Fluch der Zivilisation!), Kinder, die mit einem angeleinten Äffchen spielen, kleine Mädchen, die mit Müll spielen, Fischer, die Netze reparieren, Hunde dösen unter dem erhöhten Boden und warten auf die nächste Gelegenheit, ihren Grund und Boden gegen Nachbarshunde zu verteidigen oder ein vorbeifahrendes Moped anzubellen, ausdruckslose zermürbte Alte, die dem Lauf der Zeiten zusehen, Leute, die einfach eng aneinandergeschmiegt die Hitze des Tages an sich vorüberziehen lassen.

Nur wenige Häuser sind hier noch auf Stelzen errichtet. Das Provisorium hat System: Denn der See ändert seine Wasserfläche im Laufe eines Jahres um den Faktor vier! Dabei kann die Differenz zwischen höchstem und niedrigstem Wasserstand ohne weiteres 6-14 Meter betragen, je nach Jahr und je nach Regenfällen und Rückstau des Mekong. Welchen Einfluß auf dieses amphibische Ökosystem die weiträumigen Abholzungen in der Zeit der Roten Khmer und der anschließenden vietnamesischen Besatzung haben, ist noch nicht abzusehen, aber mein Führer Chy sprach von seitdem geringeren Füllungsständen des Sees und von einer Ausbeutung der Fischbestände während dieser Zeit.

Den höchsten Wasserstand erreicht der See im Dezember. Die Dörfer müssen in der Nähe des Ufers bleiben, also ziehen sie im Jahresrhythmus mit um. In wenigen Stunden ist die Hütte abgebaut, auf einem Karren verschnürt und ein paar hundert Meter weiter wieder aufgebaut. Die wenigen Hütten auf Stelzen wirken dagegen wie verloren und ohne Anbindung zur Außenwelt – bei Niedrigwasser irgendwo hoch oben auf den Holzstelzen schwebend, bei Hochwasser wie eine verlassene Insel zwischen treibendem Grünzeug.

Der See ist Nahrungsgrundlage für ein weites Ökosystem. Während seiner maximalen Ausdehnung überflutet der See zuerst die angrenzenden Mangrovenwälder, dann die Baumbestände und den Schilfgürtel, schließlich die Reisfelder, wenn er sich zurückzieht, bleibt auf den Feldern fruchtbarer Schlamm zurück. Die umliegenden Böden erlauben zwei Reisernten pro Jahr.

Dort, wo sich am Straßendamm der Übergang zwischen noch festen, aber leicht abbaubaren Behausungen zu Hausbooten vollzieht, habe ich mich mit einem Boot (ganz dekadent mit Motor) weiter herausfahren lassen, durch die Fahrrinne zwischen den Grasinseln hindurch, durch die verzweigten Arme der Kanäle, durch die überfluteten Wälder bis hinaus aufs offene Wasser des schlammigen Tonle Sap. Das schwimmende Dorf ist ca. 1.5 km lang, bis man die offene Wasserfläche erreicht, wo die überfluteten Wälder und Mangovenbestände abrupt enden. Der Lauf der Welt scheint hier stillzustehen – traditionelles Leben bestimmt das Bild, wenig Motorenlärm, das ruhige Plätschern der entgegenkommenden gepaddelten Boote macht die Stille des in der Hitze dämpfigen amphibischen Lebensraumes noch greifbarer. Wo man vorbeikommt – traditionell einfaches, genügsames und vor allem äußerst armes Leben in den offenen Booten oder deren Veranden. Hier wird gespült, dort gewaschen, hier gekocht, während die Fischer in irgendeiner Hängmatte leise hin und her schwingen – alles ist offen und einsehbar.

Tief ist der See nicht, in der Trockenzeit ist er kaum für größere Boote befahrbar. Während der Regenzeit sind ganze riesige Wälder überflutet, die Baumkronen ragen über die schlammigen Fluten hinaus, im ruhigen Wasser zwischen den Mangroven und Bäumen ist das ideale Brutgebiet für Fische. Der Fischreichtum des Sees ist Nahrungsgrundlage für viele Kambodschaner. Der Tonle Sap ist eines der fischreichsten Gewässer der Welt. 80 % des Proteinbedarfes der Kambodschaner werden nach Auskunft von Chy aus diesem See gedeckt, der Rest stammt aus dem Mekong, nur ein geringer Teil wird durch tierisches Eiweiß abgedeckt.

Der sich ständig im Jahresrhythmus ändernde Wasserspiegel zwingt die Menschen zu amphibischer Anpassung. Da die Bewohner als Fischer stets in Ufernähe leben müssen, haben sie sich dergestalt mit den Umweltbedingungen arrangiert, daß sie auf schwimmenden Dörfern leben. Der Hauptteil der schwimmenden Häuser und Hausboote liegt am Damm der Hauptstraße vertäut, eine Straße, die immer weiter in Richtung See führt und je nach Wasserstand früher oder später einfach im Wasser endet. Alles gibt es auf Booten oder Pontons montiert: Wohnhütten, Krankenstation (naja, durch die offenen Türen sah man nicht mehr als einen Ventilator und ein paar Stühle auf dreckigem Boden sowie eine abgetrennte Abteilung mit vergittertem Fenster), Schule, Billardsalon, Restaurant, katholische Kirche. Größere Anwesen oder soziale Einrichtungen benutzen mehrere Bootsrümpfe, einfache Behausungen bestehen aus einem über und über ausgebauten Bootsrumpf, dem man jede Seitenstabilität absprechen möchte. Als Auftriebskörper sind manchmal noch zusätzlich Bambusbündel oder leere rostige Fässer montiert. In Richtung See liegen immer mehr Hausboote vertäut oder verankert entlang der Fahrrinne zwischen den amphibischen Grasinseln und Bäumen. Manche haben einen hübschen Garten aus bunt blühenden Wasserpflanzen rings ums Boot angelegt, andere züchten unter der Veranda im Wasser eßbare Wasserpflanzen oder Fischfutterpflanzen. Eine Hütte sah ich, deren hinterer Teil als Stall ausgebaut war, die Huftiere lagen auf der teilweise schief im Wasser hängenden Pattform hinter ihrem Holzzaun und dösten in die Landschaft. Grotesk wirkt der Einbruch moderner Zivilisation wie Fernsehantennen: Kleines Hausboot, bietet vielleicht 5 Personen Unterkunft, das Dach wird bekrönt von einer ca. 2 m hohen und 3 m ausladenden Antenne.

Den Verkehr zwischen den Hütten halten unzählige Boote aufrecht, schmale lange Boote mit weit ausladendem Bug und Heck, ganz traditionell gepaddelt. Nur wenige können sich hier einen Motor leisten. Dazwischen die Boote der Händler, die Ware auf dem Vorschiff aufgetürmt. Oder ich erinnere mich an ein Haushaltswarengeschäft, dessen bunte Küchengeräte aus Metall und Plastik die Außenwände des Häuschens gut sichtbar über und über bedeckten, ganz im Stile der genauso überladenen Marktbuden der Festlanddörfer. Besonders schön die Marktfrauen mit Gemüse und Obst, hundertmal authentischer und echter als die Frauen der Schwimmenden Märkte in Damnoen Saduak in Thailand.

Ganz wichtig sind auch die Fischzuchten. Das sind Konstruktionen, die in Form und Bauweise einem Schiff ähneln. Kiel, Steven, Spanten, Planken, alles vorhanden. Nur – die Planken sind auf Lücke gesetzt, und das Ganze ist innen mit einem Maschengeflecht oder Maschendraht ausgekleidet, und der Rumpf des Schiffes trägt keine Ladung, sondern ist wie eine Reuse gebaut, darin leben Hunderte von Fischen. Damit das Ganze auch schwimmt, werden außen Schwimmkörper wie z. B. leere Fässer aus rostigem Metall befestigt. Auf den Decksplanken lebt die Familie, bereitet Fischfutter zu, füttert und fängt die Fische durch eine rechteckige Öffnung im Deck, trocknet gefangene Fische auf den Planken oder schläft in einem kleinen Hüttchen. So treibt die Fischzucht in den Kanälen des Seesaumes. Die Betreiber fahren mit ihren Booten Fischfutter ernten, mit riesigen Bergen von Grünzeug beladen kehren die Boote wieder ins Dorf zurück. Nach Trocknen wird daraus Fischfutter hergestellt – in großen, wok-ähnlichen gußeisernen Pfannen wird das Material geröstet und mit einem langen Holzpaddel gewendet. Gleich nebenan liegen auf den Decksplanken die gefangenen Fische zum Trocknen ausgelegt.

In gleicher Form habe ich eine Krokodilfarm gesehen, ebenfalls eine Art schwimmender Käfig, der an das eigentliche doppelrümpfige Hausboot angebunden war, unter dem Maschendraht des Decks räkelten sich Dutzende von Krokodilen und warteten auf die nächste Fütterung.

Es ist sehr angenehm in diesen Dörfern, die Bewohner leben ihr traditionelles, zwar einfaches, aber genügsames Leben, sind noch nicht entwurzelt, haben ihr Auskommen und begegnen dem Touristen mit einem stoischen Gleichmut. Die Erwachsenen sind fast ein bißchen reserviert bis distanziert. Nur die Kinder sind neugieriger und interessieren sich lebhaft für fremde Gesichter und winken von den Booten. Man ist noch nicht auf den Tourismus fixiert, das Leben geht seinen gewohnten Gang. Die Bewohner führen ein sehr traditionelles Leben, bis auf Plastik, Mopeds auf dem Festland und Motoren einiger Boote. Ansonsten macht das Ganze den Eindruck einer in sich konsistenten, genügsamen, in sich selbst ruhenden Lebensform.

Photogalerie Tonle Sap (1)
Photogalerie Tonle Sap (2)

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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