Anne Christine Hanser
Reportagen aus dem Jemen, Teil 15:
Die Gute Tat, oder: Die Wahrheit

Februar 2005

Es war Mitte Dezember 2005, als eine Person meines Vertrauens auf mich zukam, um mich dazu zu bewegen, eine Gute Tat zu tun.

Wo immer es eine Gute Tat zu tun gibt, bin ich zur Stelle, um mir Punkte für das jenseitige Leben zu erwerben, an dessen Existenz ich vor vielen Jahren aufgehört habe zu glauben. Das nennt man in der Biologie Prägung. Es ist einfach in mir drin, seit frühester Kindheit. Obgleich das Leben immer wieder versucht, mich eines Besseren zu belehren, habe ich bisher erfolgreich der Versuchung getrotzt, Vernunft anzunehmen. - Das Phänomen ist übrigens auch unter dem Begriff 'Helfersyndrom' bekannt. - Aber zurück zu der Geschichte....

Einer meiner jemenitischen Freunde steckte in einer Krise. In den letzten Tagen hatte er sich rar gemacht. Nur zaghaft erfuhr ich in einer SMS, die ich auf meine Anfrage erhielt, daß er ein Problem habe. Meine Nachfrage, wie ich helfen könne, beantwortete er mit - er bekäme das Problem selbst in den Griff. –

Prima, dachte ich. Doch auch in den nächsten Tagen blieb Said (die Namen der Agierenden sind aus im Verlauf der Geschichte verständlich werdenden Gründen geändert) nicht auffindbar. Gelegentlich vernahm man, er sei hier oder da gesichtet worden war, gleich einem U-Boot, daß hier und da auftaucht, um ein paar Momente weiter wieder abzutauchen. Ich war daher höchst sensibilisiert, als die Person meines Vertrauens - nennen wir sie hier Rissaj - auf mich zukam. Rissaj war zugetragen worden, daß Said finanzielle Sorgen plagten. Said habe Bauarbeiter beauftragt, sein Haus aufzustocken (es ist im Jemen absolut normal, ein Haus erst einmal eingeschossig zu bauen, um dann nach Notwendigkeit und ausreichenden Finanzen - ein weiteres Geschoß darauf zusetzen). Dabei sei das Geld ausgegangen, und jetzt lauerten die Bauarbeiter ihm überall auf. Die Bauarbeiten seien natürlich eingestellt, ja sogar die Polizei sei eingeschaltet worden. Das Problem sei bereits in mehreren Qatsitzungen erörtert worden. Offensichtlich hatte Said darauf vertraut, daß seine Schuldner rechtzeitig ihre Schulden zurückzahlten. Damit hatte er sich verkalkuliert. Seine Schuldner blieben ihm ihre Schulden schuldig, und er seinerseits seinen Gläubigern, den Bauarbeitern. Das Ganze war Said, der weithin als ehrenhafter Mann bekannt ist, höchst peinlich.

Und während ich mich noch wunderte, wie gut die Buschtrommeln in Sana'a funktionierten, machte mir Rissaj den Vorschlag, ob ich nicht helfen könnte. - Das brauchte man mich nicht zweimal zu fragen. Wie gesagt, die Prägung, ein Wort genügt. Schnell war ein Plan ausgeklügelt. - Rissaj würde bei Said vorfühlen, welche Summe für welchen Zeitraum benötigt wurde.

Es dauerte nicht lange, da hatte Rissaj in Erfahrung gebracht, daß es sich um etwa 3000 Dollar handelte. Rissaj machte Said Glauben, daß ich Rissaj vor geraumer Zeit Projektgelder in Höhe von 5000 EURO zur sicheren Verwahrung gegeben hätte, für die ich einstweilen keine Verwendung hätte. Rissaj würde ihm für den benötigten Zeitraum das Geld leihen, ohne daß ich je etwas davon erfahren würde. Rissaj würde mir nur sagen, daß er einem Freund kurzfristig aushelfen müsse. Mit offenem Mund staunte ich, welche Geschichte Rissaj Said aufgetischt hatte und der bereitwillig schluckte. - Wenn ich an meine SMS dachte, wurde mir klar, daß sich Said unmöglich von mir direkt helfen lassen würde. Er war entweder zu stolz oder zu schüchtern.

Ich stimmte Rissaj zu, verabredete für den nächsten Nachmittag die Übergabe des Geldes. Noch ehe es dazu kam, waren aus den benötigten 3000 Dollar 3000 EURO geworden. - Sei's drum, dachte ich, ich habe die Summe sowieso in EURO und nicht DOLLAR.

Was mich an Rissaj's Geschichte am meisten verwunderte war, daß mir TATSÄCHLICH zwei Wochen zuvor mein Kollegen Uwe, dessen Projekt im Ministerium zu Ende gegangen war, die restlichen etwa 5000 EURO des aufgelösten Projektkontos ausgehändigt hatte, die mir über die folgenden beiden Monate dann vom Gehalt abgezogen werden sollten. Das ersparte mir die hohen Überweisungsgebühren aus Deutschland, Uwe die weitere Verantwortung und der Firma die Überweisungsgebühren nach Deutschland. Aber von all dem konnte Rissaj nichts wissen! Niemand hier im Jemen außer Uwe – und vielleicht dessen Frau - wußten von dieser Transaktion. – Sensationell.

Am vereinbarten Nachmittag kam Rissaj bei mir zu Hause vorbei. Ich bereitete eine Quittung über 4000 EURO - aus den benötigten 3000 EURO waren inzwischen 4000 EURO geworden (was soll's, von Uwe hatte ich ja 5000 bekommen.) - vor, die ich Rissaj unterschreiben ließ. Pingelig - wie ich manchmal bin - schrieb ich auch den Verwendungszweck (Übergabe an Said) und den Zeitpunkt der Rückgabe (nach 12 Monaten) dazu. Für alle Fälle - dachte ich.

Nach islamischem Recht darf man keine Zinsen fordern. Damit die Banken dennoch überleben können, verlagern sie sich entweder auf Großinvestitionen (ich nehme an, das man durchaus Firmen gegenüber Zinsen in Rechnung stellen kann) oder erheben großzügige Gebühren für Kredite an ihre Privatkunden. - Was meinen privaten Kredit anbelangt, käme es natürlich nicht in Frage, von einem jemenitischen Freund wie Said Zinsen zu fordern. - Insgeheim hatte ich beschlossen, das Geld gar nicht erst zurückzufordern. - Das ist das Gute, wenn man ein mehr als ausreichendes Gehalt, keine Kinder beziehungsweise als nächste Verwandte eine raffgierige Schwester hat, der man nun wirklich keinen Pfennig zuviel hinterlassen will. - Hinzukam, daß ich meiner Firma bei meinem Abgang indirekt - quasi als Vergeltung für die Wunden - eine Art Abfindung abgeluchst hatte, die ich vorhatte, einem guten Zweck zu zuführen. Das Geld für mich zu behalten, wäre mir wie eine (weitere) nachträgliche Demütigung vorgekommen. - Idiotisch? Wahrscheinlich!

Ich übergab das Geld an Rissaj mit dem frohen Vorgefühl, meinen Beitrag gegen die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen geleistet zu haben. Ich hatte Said immer wieder in den letzten anderthalb Jahren als ehrlichen, aufrechten und gutherzigen Jemeniten kennen gelernt, der es ohne Zweifel verdient hatte, daß ihm jemand unter die Arme greift.

Die Geldübergabe von Rissaj an Said war dann doch schwieriger, als es sich Rissaj vorgestellt hatte. Sie trafen sich erst zwei Tage später irgendwo in der Stadt. Bei der Begegnung wollte Said immer wieder wissen, ob Rissaj mir vielleicht doch reinen Wein eingeschenkt hatte. Rissaj verneinte. Zuletzt kamen Said dann doch erhebliche Zweifel. Zu abstrus war die Geschichte, mit der Rissaj Said zu betören versuchte. Am Ende - so erzählte Rissaj – habe Said gelächelt und zu Rissaj gesagt, er solle mir ausrichten, daß er mir Dank schulde und ganz bestimmt das Geld wie vereinbart in 12 Monaten zurückzahlen werde. - Endlich nahm er das Geld und die beiden trennten sich. Keine 10 Minuten später habe Said Rissaj angerufen, um ihm zu verkünden, daß er das Geld unmöglich von mir annehmen könne. - Rissaj versicherte ihm abermals, daß das alles völlig O.K. sei und ich nicht ahne, wer der Freund in Not sei. Doch Said ließ sich nicht mehr täuschen. 'Ich werde mich direkt bei ihr bedanken.'

Ich mußte schmunzeln, als mir Rissaj gleich darauf noch brühwarm die Umstände der Übergabe schilderte. Also war Said schließlich Rissaj doch nicht auf den Leim gegangen. Ich war stolz auf Said. Ich schätze Intelligenz, obwohl oder vielleicht weil sie mir selbst manchmal mangelt. - Mehr noch war ich glücklich darüber, daß Said seinen Stotz hatte überwinden können.

'Warum hast Du denn am Ende nicht Said gegenüber zugegeben, daß das alles eine Finte war und sehr wohl weiß, um welchen Freund es sich handelt', wollte ich von Rissaj wissen. 'Das mußte ich,' sagte er, 'sonst hätte Said das Geld zurückwiesen.'

Na, ja, ich hätte das nicht durchgehalten. Rissaj war ohne Zweifel ein begnadeter Schauspieler.

Als ich Rissaj nach der Quittung fragte, erfuhr ich zu meiner Verwunderung: 'Habe ich keine bekommen. Das mache ich später mit ihm aus. Du hast ja die Quittung von mir bekommen.' - Gab es tatsächlich jemanden, der meine Naivität noch überbieten konnte, dachte ich insgeheim. Natürlich hatte Rissaj Recht. Ich hatte die Quittung mit Rissaj's Unterschrift. Was kümmerte mich also Rissaj's Unvernunft, keine Quittung von Said zu verlangen?! – Aber hier kam dann wieder mein Helfersyndrom zur Geltung, das Menschen gefragt oder ungefragt mit Ratschlägen fürs Leben ausstattet.

Es vergingen einige Wochen, ehe das Thema unverhofft wieder auf die Tagesordnung kam. In der Zwischenzeit hatte Rissaj einen Unfall, dann kam Neujahr, und über die Id-Feiertage fuhr ich in Urlaub. Es war Ende Januar, als Said auf mich zukam, um sich bei mir für die 3000 EURO zu bedanken. Es war mir peinlich. - Ich freute mich, ihm geholfen zu haben, und wollte kein Wort mehr davon hören. Auf meine Nachfrage versicherte mir Said, daß der Betrag ausreichend gewesen war. Sicherheitshalber - wohl ihm die ganze Sache mindestens genauso peinlich war wie mir – bat mich Said, in Zukunft nicht noch eine dritte Person - wie Rissaj - einzuschalten. (Ich dachte an die Buschtrommeln. Und gab Said Recht. Das brauchte ja nicht noch die Runde zu machen.)

Irgendetwas in meinem tiefen Innern löste einen leichten Alarm aus, wie die sensible Nadel eines Meßinstrumentes, das eine Abweichung von der Norm registriert. Ich war mir aber nicht sicher.

Am Abend, bei meiner Rückkehr nach Hause, wurde mir der Zweifel zur Gewißheit. Unsicher zog ich aus meinem Zettelkasten eine selbst angefertigte Quittung hervor, auf der mit unverwechselbaren Ziffern 4000 EURO stand. - Um auf Nummer sicher zugehen, schickte ich Said eine SMS: Wie viel Geld hast Du bekommen? Nach einiger Unendlichkeit kam die Bestätigung: 3000 EURO zurück geSMSt.

Eine Mischung aus Unglauben und Enttäuschung braute sich in meinem Innern zusammen. Konnte es sein, daß mich Rissaj belogen hatte? - Keine voreiligen Schlüsse ziehen! Sagte ich mir immer wieder, als ich die folgende SMS an Rissaj schrieb: 'Gibt es irgendetwas, das Du mir sagen wolltest?'

Die Antwort kam prompt - und zwar nicht als SMS, sondern per Anruf. Ich wiederholte die Frage ein weiteres Mal, aber Rissaj, das Unschuldslamm, war sich keiner Übeltat bewußt. Also sprach ich ihn direkt - ohne meine Verärgerung zu verheimlichen - auf die Differenz an, von der ich, wenn ich nicht zufällig Said begegnet wäre, gar nichts erfahren hätte. Zerknirscht gestand Rissaj, er habe vergessen, mir zu sagen, daß Said erst einmal 3000 EURO genommen habe. Said habe damals noch darauf gehofft, daß SEINE Schuldner ihre Schulden rechtzeitig begleichen würden. Nach Rissaj’s Unfall, Ende Dezember, sei der Kontakt zu Said abgebrochen. Rissaj schlug von sich aus vor, Said noch einmal darauf anzusprechen.

Ich hatte mich inzwischen beruhigt, insbesondere weil die fehlenden 1000 EURO zum Glück doch nicht verloren gegangen waren. Rissaj räumte ein, daß es sein Fehler gewesen war, mich nicht gleich in Kenntnis gesetzt zu haben.

Ein paar Tage später erzählte mir Rissaj, er habe von Said erfahren, daß er noch weitere 2000 EURO brauche. Rissaj vermutete, daß Said die Summe nicht zuletzt deswegen genannt hatte, weil Rissaj die Gesamtsumme von 5000 EURO ins Spiel gebracht hatte. 'Ich habe ihm aber hoch- und heilig versprechen müssen, daß ich Dir diesmal nichts davon erzähle. Es soll ein Geheimnis bleiben, weil ansonsten Said sein Gesicht verliert.' - Ich schüttelte den Kopf. Warum nur hatte mir Said nicht selbst sagen können, daß seine Schuldner nicht gezahlt hatten? 'Männer' dachte ich nur. 'Sind zu stolz, um zuzugeben, daß sie Hilfe brauchen.' Nach einigem Hin- und Her beschloß ich, daß ich diese 2000 EURO dann aber doch zurückfordern würde. Ohnehin war mir klar, daß Said, alles daran setzen würde, mir den gesamten Betrag fristgerecht zurückzuerstatten. So gut glaubte ich doch zu kennen.

Ein weiteres Mal vereinbarte ich mit Rissaj die Geldübergabe (für die restlichen 1000 EURO), nicht ohne ihm einzuschärfen, sich diesmal eine Quittung von Said - am besten über den Gesamtbetrag geben zu lassen. 'Schau mal! Wenn Du nun einen tödlichen Unfall hast, was natürlich hoffentlich nie passieren wird [manchmal bin ich etwas unbeholfen in meinen Beispielen], dann könnte Said abstreiten, das Geld je erhalten zu haben, und ich müßte das Geld von Deiner armen Witwe zurückverlangen.' Ein drastisches Beispiel vielleicht, aber doch - angesichts Rissajs kürzlichen Unfalls und des Sana'anischen Verkehrs (man besteht keinen Führerschein, man erwirbt ihn) - ein sehr realitätsnahes.

Zufrieden über das gelungene Beispiel lehnte ich mich zurück und wartete auf Vollzug. Als mir dann am nächsten Morgen Rissaj erzählte, er habe Said den Betrag nicht persönlich übergeben, sondern dem Sekretär in einem Kuvert überlassen, begann ich doch ernstlich an meiner Überzeugungskraft und mehr noch an Rissajs Verstand zu zweifeln. - 'Keine Angst, Said war in einem Meeting und wollte nicht, daß irgend jemand auf falsche Gedanken kommt. Deshalb sagte er, daß ich die 'PAPIERE' dem Sekretär übergeben soll.'

'Mein Gott', dachte ich mir. So ein Unverstand. - 'Hat Said denn wenigstens für den Betrag unterschrieben?' 'Hm. N... ein... Aber keine Angst, wird er noch. Er hatte doch die Besucher in seinem Zimmer’ meinte Rissaj ausweichend, wohl wissend, daß ich ihm in der nächsten Minute eine Standpauke zum Thema Leichtsinn halten würde. Rissaj antwortete, daß er volles Vertrauen in Said habe. (Was sagte Lenin seinerzeit über das Vertrauen...). Wahrscheinlich sollte ich mich nicht weiter einmischen. Die arabischen Gepflogenheiten würden mir einstweilen ein Rätsel bleiben...

Daß das Thema dann doch wieder auf die Tagesordnung kam, geschah abermals völlig unverhofft. - Es war Anfang Februar, als Said sich wieder an die SMS - mit meiner Frage nach dem genauen Betrag - erinnerte. Said und ich trafen uns sehr selten. Und eigentlich wollte ich die Konversation nicht mit dem Thema Geld belasten. Die Konversation war ohnehin schwerfällig, da sich meine Arabischkenntnisse und Said's Englischkenntnisse in sehr engen Bahnen bewegen. Noch vor einem halben Jahr hätten wir nichts ohne unsere Dolmetscher sagen können. Nun waren wir immerhin in der Lage ein paar einfache Sätze auszutauschen.

Etwas unbeholfen und verlegen, erläuterte ich Said den Hintergrund - reumütig meine Zweifel an Rissaj’s Ehrlichkeit einräumend. Zu meiner größten Verblüffung erfuhr ich aus dem Gespräch mit Said, daß dieser keineswegs weitere 2000 EURO erhalten hatte, sondern eben nur die 3000 EURO im Dezember. Ich war sprachlos. - Warum spielte Said immer noch das Spiel. Er brauchte mir doch nichts vorzumachen. Oder sollte Rissaj gelogen haben? Aber warum? - Rissaj hatte das Geld mir gegenüber quittiert, allerdings mit dem Verwendungszweck 'zur Übergabe an Said'. Konnte Rissaj geahnt haben, daß ich nicht vorhatte, die 3000 von Said zurückzuverlangen. Aber Said würde darauf bestehen, mir das Geld nach abgelaufener First zurückzugeben, und spätestens dann wäre der Schwindel aufgedeckt worden. - Allerdings nicht, wenn Said Rissaj das Geld zurückgegeben hätte. Das hätte Rissaj für immerhin ein Jahr 2000 EURO verschafft.

Ich beschloß, erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen, bevor ich Rissaj am nächsten Tag darauf ansprechen würde. - Rissaj war sichtlich überrascht. Warum hätte ich das Geld unterschlagen sollen. Ich hätte Dich doch einfach danach fragen können. Und Du hättest mir das Geld so gegeben. Du hast mir ja schon früher Geld geliehen.' - Ja, das leuchtete mir ein. Ich hatte Rissaj im Dezember - nach seinem Unfall - gefragt, ob er Geld brauche. Aber Rissaj hatte damals verneint.

Dann kam mir ein sehr unangenehmer Gedanke: "Rissaj, kann es sein, daß Ihr beide Euch mißverstanden hat. Daß Said dachte, es seien wirklich nur PAPIERE. Und deshalb hat er Dich an seinen Sekretär verwiesen?' Voller Schreck stellte ich mir vor, daß der Sekretär den Umschlag vielleicht verschlampt haben könnte, und das ganze Geld verloren war. Welch eine Unvernunft. Wie konnte Rissaj sich darauf einlassen?! - Aber noch verrückter, warum hatte Said Rissaj nicht gebeten, mit den PAPIEREN später zurückzukommen. Warum hatte er sich überhaupt auf seiner Arbeitsstelle mit ihm getroffen. Noch während ich mir ausmalte, daß nun entweder Rissaj oder Said Geld zurückerstatten sollten, das sie in Anspruch genommen hatten. Konnte ich das wirklich verlangen? Und von welchem der beiden sollte ich das verlangen?

'Nein, nein', beruhigte mich Said. 'Für die 2000 EURO habe die Unterschrift. Ich kann Dir die Quittung bringen. Ich kann sie Dir morgen zeigen, wenn Du willst.'

- 'Ja, bitte.'

Das beruhigte mich wieder einigermaßen. Das Geld war also nicht verloren gegangen.

"Warum behauptet Said, daß er das Geld nicht von Dir bekommen hat?" fragte ich nach. "Du weißt doch, wie schüchtern er ist. Ich habe ihm zusichern müssen, daß Du nichts davon erfährst. Jetzt wird er sauer auf mich sein. Und natürlich streitet er alles ab. Ich werde mit ihm sprechen."

Es stimmte, daß sich Said sicherlich ungern von jemandem helfen ließ. Aber schließlich hatte er das Geld im Dezember akzeptiert. Wieso sollte er jetzt abstreiten? Alles sehr seltsam.

Am nächsten Morgen traf ich Rissaj. Ich sprach ihn auf die Quittung an. – Er suchte in allen Taschen fand sie aber nicht. - Die ist wohl im Auto. Ich bring sie nachher.

In den nächsten Stunden war ich sehr beschäftigt: Besprechungen, Besucher etc. Erst um die Mittagszeit erinnerte ich mich wieder an Rissaj.

Als ich Rissaj bei nächsten Mal wieder sah, erzählte er mir, daß Said ihn am Morgen angerufen hatte, um das Geld zurückzugeben und die Quittung zu verlangen. Als sie sich schließlich wie vereinbart trafen, hatte Said das Geld nicht dabei. Dennoch hatte ihm Rissaj die Quittung zurückgegeben. – Als ich das hörte, schüttelte ich nur den Kopf. "Wieso hast Du ihm die Quittung zurückgegeben? Jetzt hast Du nichts mehr in der Hand. Keinen Beweis."

- "Was sollte ich machen?! Als ich zu Said sagte, ich würde ihm die Quittung erst geben, wenn er mir das Geld zurückerstattet, wurde Said zornig und meinte, ich würde ihm wohl nicht trauen. - Und dann habe ich ihm die Quittung zurückgegeben."

Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich. Man mußte Rissaj vor sich selbst schützen. Ich war schon naiv genug, aber Rissaj übertraf mich um Längen - dachte ich zumindest. Doch Rissaj strahlte übers breite Gesicht, wie nur Rissaj strahlen konnte. - 'Ich habe eine Kopie von dem Beleg gemacht. Ich kann sie Dir zeigen.'

"O.K. Zeig mir die Kopie'. - Die Kopie war in Arabisch. Rissaj übersetze die wenigen Worte, die da auf dem Zettel standen. Immerhin konnte ich selbst die 2000 EURO entziffern. (Wer übrigens gedacht hat, daß unser westeuropäischen Ziffern - Arabisch sind, der wird eines Besseren belehrt, wenn er die wirklichen Arabischen sieht.')

Das beruhigte mich ein bißchen. Und dennoch stiegen - wie Nebel an einem düsteren Novembermorgen - ganz sachte Zweifel in mir auf. - Wieso hatte mir Rissaj die Originalquittung nicht vorher gezeigt. Eine Kopie ist recht einfach nachzumachen, wenn man Saids Unterschrift von einem Brief oder dergleichen kopiert. Noch während ich sinnierte, schaute mich Rissaj mit einem inständigen Blick an: "Bitte, sag, nur nichts zu Said von der Kopie. Wenn der erfährt, daß ich mir eine Kopie gemacht habe, wird er böse werden und versuchen mir zu schaden."

"Wie sollte Dir Said schaden?! Unsinn!" Rissaj antworte nicht, sondern wechselte das Thema. "Said hat versprochen in den nächsten Tagen das Geld zurückzuerstatten. Ich vertraue ihm."

Die nächsten Tage vergingen, aber nichts geschah. - Das eine oder andere Mal sprach ich Rissaj an, aber der zuckte nur die Schultern. 'Said macht sich rar. Ich habe ihn mehrfach versucht zu treffen oder ihn anzurufen, aber er geht nicht ans Telefon. Gestern habe ich es dann endlich geschafft – von einer Telefonnummer aus, die er nicht kannte.' In der Zwischenzeit hatte ich selbst aber auch Kontakt mit Said. Wir telefonierten bzw. SMSten uns einige Male. Offensichtlich ignorierte er meine SMS oder Anrufe nicht. Ganz im Gegenteil, mehrfach wollte er wissen, ob Rissaj das Geld inzwischen zurückgegeben habe. Ich staunte. Wieso tat Said so scheinheilig, wenn er es doch offensichtlich an ihm lag, daß Rissaj mir das Geld bislang noch nicht zurückgeben konnte. - Oder sollte Said Recht haben. In den Telefonaten bzw. SMS beschwor mich Said immer wieder, Rissaj zur Rede zu stellen. "Du mußt die Wahrheit wissen?" Und manchmal klang es, als ob er dies mehr um seiner vermeintlichen Unschuld willen als um der Wahrheit willen sagte. "Um die Wahrheit zu erfahren, sollten wir drei uns zusammensetzen", schlug ich vor. Aber Said lehnte ab. Das führe zu nichts, denn Rissaj würde für ihn übersetzen müssen, und ganz bestimmt falsch übersetzen. - Es war diese Ablehnung, sich an einen Tisch zu setzen, die mich nachdenklich machte.

Je mehr ich nachdachte, um so unsicherer wurde ich, ob ich die Wahrheit wissen wollte. Die Wahrheit war, daß einer der beiden lügt. Die beiden Versionen waren nicht miteinander vereinbar. Ein Mißverständnis war auszuschließen: einer der beiden hatte das Geld an sich genommen.

Wenn einer der beiden die Lüge gestehen würde, sich entschuldigen würde, mir erklärte, daß er schwach geworden war, ... wenn er mir dann das Geld zurückgeben würde... Aber keiner der beiden kam auf mich zu.

Es dauerte zwei Wochen, ehe die Situation eskalierte. - Es war zwei Tage bevor Rissaj’s Geburtstag. Ich überlegte mir, was ich Rissaj schenken sollte (und was wäre, wenn nun Rissaj derjenige wäre...?). Rissaj kam gerade ins Büro hinein, als er einen Anruf auf seinem Mobiltelefon entgegennahm. Rissaj machte kehrt, um das Gespräch im Flur draußen fortzuführen. - Ich glaubte, Said's laute Stimme aus dem Mobiltelefon zu vernehmen. Das würde aber gar nicht zu Rissaj’s Geschichte passen, daß Said ihn meide. - Ich wartete darauf, daß Rissaj mir von dem Inhalt des Gespräches erzählen würde. Tat er aber nicht. - Wahrscheinlich hatte ich mich geirrt.

Doch nicht. Said rief mich am Nachmittag an. Er wollte wissen, ob Rissaj gestanden hat, das Geld genommen zu haben. Er redete mir ins Gewissen. Ich müsse doch die Wahrheit wissen wollen. Er jedenfalls wolle, daß ich es weiß. 'Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will.'

'Das kann nur heißen, daß Du mir nicht glaubst?

'Ich weiß nicht, was und wem ich glauben soll.'

'Warum sollte ich das Geld nehmen und nicht sagen?'

'Warum sollte Rissaj abstreiten? Rissaj hat für 5000 EURO unterschrieben.'

Ich spürte, daß Said sich die Sache sehr zu Herzen nahm. Ihm war sehr daran gelegen, daß ich meine hohe Meinung von ihm aufrechterhielt. Aber ich war in der Tat ratlos. Wenn ich Said zuhörte, begann ich ihm zu glauben. Wenn ich Rissaj zuhörte, fühle ich seine Unschuld.

'Wir müssen uns zusammensetzen und Du mußt dabei sein. Du mußt die Wahrheit wissen. Ich komme morgen früh in Dein Büro'

'O.K.' seufzte, ich einerseits erleichtert, daß Said nun bereit war für das Gespräch zu dritt, anderseits betrübt, daß eine Freundschaft in allernächster Zukunft der Vergangenheit angehören würde. Und noch immer wußte ich nicht, welche Freundschaft es war.

Ich rief Rissaj an und bat ihn, am nächsten Morgen ins Büro zu kommen. 'Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen’, fragte ich gedankenvoll Rissaj? Und dann kam mir selbst die Antwort. 'Würde ein Muslim es wagen, einen Meineid auf den Koran zu schwören? Ich habe eine Deutsch/Arabische Version. Gilt die genauso viel wie eine rein Arabische? Kannst Du morgen bitte den Koran mitbringen? Ich will der Geschichte ein für alle Mal ein Ende bereiten.'

'Ich bin bereit, auf den Koran zu schwören. Ich schöre bei Allah, daß ich das Geld nicht genommen habe. Wenn Said das Geld nicht zurückgibt, dann werde ich es tun. Gib mir etwas Zeit. Zwei oder drei Monate'.

"Aber wenn Du es nicht genommen hast, warum sollst Du es denn zurückzahlen", wollte ich wissen.

"Ich war für das Geld verantwortlich. Ich habe unterschrieben," bekräftigte Rissaj

Ich hörte die Worte, und mir war nicht klar, ob sie davon zeugten, daß Rissaj die Wahrheit sprach, oder einem Eingeständnis gleichkamen.

Am nächsten Morgen - wir hatten keine genaue Zeit vereinbart, war Rissaj in meinem Büro. Er sah müde aus: "Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, sagte er. Ich nickte und zog meinen Koran aus der Computertasche. Ich hatte das Buch bei meinem letzten Aufenthalt in Deutschland bei Hugendubel gekauft, eine zweisprachige Version. (Die deutsche Version allein hätte das Buch wahrscheinlich wertlos gemacht, denn nur die Originalversion in Arabisch hat den Status der Wahrhaftigkeit.) Während ich das Buch wieder zurück in die Computertasche beförderte, äußerte ich gedankenverloren: "Said würde es Dir sehr nie vergessen, wenn wir ihn dazu brächten, einen Meineid auf den Koran zu schwören."

Said kam, aber da war Rissaj schon wieder verschwunden. Ich erwähnte nichts vom Koran. Auch Said sah müde aus. - "Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen", sagte er. Es war mir, als ob ich diesen Satz irgendwo schon mal gehört hatte. "Das gleiche hat auch Rissaj gesagt." Meinte ich vielleicht etwas zu lakonisch. "Dann bestimmt, weil er ein schlechtes Gewissen hat."

Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann ich die Wahrheit erfahren würde. Die Zeit war am Nachmittag gekommen. Said hatte mich angerufen. Als ich das Gespräch beendete, sah ich auf dem Display, daß mich Rissaj dreimal versucht hatte anzurufen. Ich rief zurück. Besetzt. Als ich nach einer halben Stunde endlich durchkam - ich nahm an, daß Said erfolgreicher gewesen war als ich - verkündete mir Rissaj kurz und schmerzlos, daß er das Geld genommen hatte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Sofort rief ich Said an, bedankte und entschuldigte mich gleichzeitig. Said war erleichtert.

In dem Gespräch, das wir am folgenden Tag Auge in Auge führten, konnte er mir keine plausible Erklärung liefern. Ich versuchte ihm eine Brücke zu bauen, in dem ich sagte, daß ich zwar verstehe, daß er das Geld gebraucht habe, weil er den Unfall hatte...

"Nein", sagte er. Als er das Geld an sich nahm, habe er genügend Geld gehabt.

'Warum hast Du es dann genommen?' drängte ich ihn.

'Wenn ich das sage, dann belaste ich mich selbst. Also sage ich besser nichts.'

'Habe ich Dir etwas getan, daß Du auf mich ärgerlich wurdest und es deshalb genommen hast?'

'Nein.'

''Hast Du geglaubt, Du könntest das Geld behalten, ohne es zurückzubezahlen?'

'Ja. .. vielleicht...'

Wir vereinbarten die Raten für die Rückzahlung und ließ ihn die Fälligkeiten mitsamt einem Schuldeingeständnis unterschreiben.

"Mein Geschenk für Deinen Geburtstag ist, daß ich nicht zur Polizei gehe und - bis auf Said und Ernst - niemand etwas davon sage.

Rissaj nickte und tat, als ob nichts geschehen sei.

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© Text, Graphik und Photos: Anne Christine Hanser 2006
Autorin: Anne Christine Hanser, International Advisor, Support for Administrative Reform, Sana'a, Jemen
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