Bernhard Peter
Typisch japanische Dinge (7): Omikuji


       

Auf dem Gelände buddhistischer Tempel und ganz besonders an Shinto-Schreinen sehen wir Rahmen mit horizontalen Schnüren oder Drähten, an denen viele weiße Papierstreifen unterschiedlichsten Erhaltungsgrades mit einem einfachen Überhandknoten (halber Schlag) befestigt sind. Sind keine solche Gestelle oder Rahmen vorhanden, sieht man auch abgeschnittene dürre Zweige, die zu einem künstlichen Gesträuch zusammengebunden werden und die über und über mit den weißen Papierschleifchen bedeckt sind. Und nicht nur an solchen offensichtlich dafür bereitgehaltenen Orten sind die Papierstreifen zu finden, sondern sie werden auch einfach in die Zweige der umliegenden Bäume und Sträucher geknotet.

Was hat es damit auf sich? Es handelt sich um in den kleinen Verkaufsständen am Tempel oder Schrein käuflich erworbene Wahrsagezettelchen, die Omikuji oder nur Mikuji genannt werden, was soviel wie "Lotterie-Orakel" bedeutet. Der Name beinhaltet beide Charakteristika: Zum einen enthalten die Zettelchen orakelartige Vorhersagen oder Weissagungen. Zum andern wird das Zettelchen durch das Zufallsprinzip zugeteilt, etwa durch zufällige Ziehung, durch Schütteln eines Vorrates oder sogar, ganz modern, durch Ziehung an einem Automaten. Oder man zieht zunächst ein Bambusstäbchen mit einer Nummer, nach der der Orakelzettel ausgegeben wird. Für die Tempel und Schreine ist der Handel mit Votivgaben und Orakelzettel ein lukratives Geschäft, aber auch eines, das als Zubrot zum laufenden Betrieb und Unterhalt benötigt wird, denn in Japan müssen sich aufgrund der konsequenten Trennung von Staat und Religion die religiösen Gemeinschaften aus eigener Kraft finanzieren.

Das Orakel an sich ist sehr allgemein und enthält nicht mehr als eine Stufe auf der Skala, die von großem Glück (dai-kichi) über mittleres Glück (chuu-kichi), kleines Glück (shou-kichi), einfaches Glück (kichi), halbes Glück (han-kichi), fast Glück (sue-kichi), fast kleines Glück (sue-shou-kichi), fast Pech (sue-kyou), halbes Pech (han-kyou), Pech (kyou), kleines Pech (shou-kyo) bis hin zu großem Pech (dai-kyou) reicht. Dazu kommen dann orakelhaft allgemein gehaltene Angaben zu Aspekten des Lebens, die betroffen sein könnten. Was das nun konkret bedeutet, weiß nur der Erwerber, der den Zusammenhang zu seinen Vorhaben herstellt und die Glücks- oder Pechstufe seinem konkreten Plan oder Wunsch zuordnet, ob er sich nun geschäftlichen Erfolg bei einer bevorstehenden Verhandlung wünscht oder ob er die Frau seiner Wahl gewinnen will, ob er eine bevorstehende Prüfung bestehen will oder demnächst ein Vorstellungsgespräch ansteht.

Was macht man nun mit den Streifen? War die Vorhersage gut, dann kann es nichts schaden, den Zettel mitzunehmen und als Beleg zu behalten, um sich bei Dingen mit unsicherem Ausgang etwas sicher zu fühlen, daß es gelingen könnte. War die Vorhersage hingegen schlecht, will man eigentlich mit dem Inhalt nichts zu tun haben und weist das Orakel weit von sich, man faltet es wieder zusammen und knotet es so schnell wie möglich irgendwo an eine Schnur oder Draht oder an ein Gestell oder einfach an die nächste Kiefer, in der Hoffnung, daß das vorhergesagte Pech dann auch dort landet und bleibt. Kiefern sind beliebt aufgrund des Gleichklanges: Kiefer = Matsu = Warten, beide Worte werden zwar mit unterschiedlichen Kanji geschrieben, aber dennoch gleich ausgesprochen, deshalb verweist man das Pech in eine Warteposition, indem man es an eine Kiefer bindet. Dieser Gedanke kann auch von denen, die Glück auf dem Zettel gefunden haben, uminterpretiert werden: Wenn man die Glückszettel anbindet, dauert das Glück vielleicht ein bißchen länger, oder, weil es im Schrein- oder Tempelbereich verbleibt, hat es einen größeren Effekt - deshalb werden manchmal auch gute Vorhersagen angebunden. Es ist, wie immer, Interpretationssache, und man dreht es sich eben so, wie es für einen selber am besten ist.

Otsu, am Tempel Ishiyama-dera, Omikuji an Drähten

Kyoto, am Heian-Schrein, Omikuji an künstlichen Büschen aus trockenen Ästen

Kyoto, am Tempel Kiyomizu-dera: Dieses Paar vergleicht belustigt ihre jeweiligen Zettel.

Kyoto, Stadtteil Arashiyama, besonders schöne Papierzettel am Tempel Daikaku-ji

Otsu, am Tempel Ishiyama-dera mit einer weiteren Variante

Omikuji am Daikoku-do im Ishiyama-dera in Otsu (Präfektur Shiga)

Omikuji an einem Gestell, das einen Eber symbolisiert, Kamigamo-Schrein, Kyoto

Omikuji an einem Gestell, das ein Pferd symbolisiert, Kamigamo-Schrein, Kyoto


Literatur, Links und Quellen:
Omikuji:
https://de.wikipedia.org/wiki/Omikuji - https://en.wikipedia.org/wiki/O-mikuji
Encyclopedia of Shinto:
http://eos.kokugakuin.ac.jp/modules/xwords/, insbesondere http://eos.kokugakuin.ac.jp/modules/xwords/entry.php?entryID=331
Omikuji:
http://japan.apike.ca/japan_omikuji.html
Nina Schönemann: Pilgerfahrten zu den Sieben Glücksgöttern: Religiöse Praxis und "Materielle Religion" im gegenwärtigen Japan, Transformierte Buddhismen 02/2011, S. 92:
http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/tb/article/viewFile/10071/3924


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