Bernhard Peter
Typisch japanische Dinge (43): Tenji burokku


Man trifft diese japanische Erfindung mittlerweile zwar auch schon in deutschen Städten an, die Tenji burokku, doch ist ihr Auftreten weitgehend auf besonders fortschrittliche Bahnhöfe o.ä. beschränkt. In Japan dagegen sind sie allgegenwärtig: Sie fallen einem spätestens dann auf, wenn man mit einem Rollkoffer die Bürgersteige entlang geht und es immer wieder hakt und holpert. In der Tat ziehen sich über weite Strecken parallel zur Fahrbahn andersfarbige Streifenplatten mit je vier Stegen mitten durch den Bürgersteig, und an Fußgängerüberwegen trifft man auf Noppenplatten - Füße heben, wenn man nicht stolpern will! Wo der Boden gekachelt ist, findet man oft auch die erhabenen Markierungen in Metall eingelassen, was insbesondere an viel begangenen Stellen haltbarer und dauerhafter ist. Hierbei handelt es sich nicht um Schikane für Fußgänger und Rollkofferbesitzer, sondern um ein taktiles Blindenleitsystem: Die Stege oder Streifen, meist vier parallele pro Einheit, sind die Leitlinien, an denen man entlang gefahrlos geradeaus geht, und die Noppen, meist 5 x 5 oder 6 x 6 im Quadrat pro Einheit im Abstand von 6,65 cm, weisen auf eine Kreuzung von Wegen, besondere Stellen wie Bahnübergänge oder allgemein auf Gefahrenstellen wie Straßenränder oder Bahnsteigkanten hin. Also: Streifen = sicher, Noppen = Achtung. Die abweichende, häufig gelbe Färbung ist eine zusätzliche Hilfe für Menschen mit Sehschwäche und ein zusätzliches Signal für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.

Dieses System wurde in Japan erfunden, von Seiichi Miyake (5.2.1926-10.7.1982) im Jahre 1965. Eigentlich leitete er ein Ryokan (traditionelles Hotel), aber mit seiner Erfindung ist er weltberühmt geworden. Seine Initialmotivation war es, einem blinden Freund zu helfen. Und dann entwickelte und finanzierte er die Prototypen selbst. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Saburo gründete er die "Traffic Safety Research Center Inc.". Seiichi Miyake stammt zwar eigentlich aus Kurashiki (Präfektur Okayama), aber zur Anwendung kam seine Idee am 18.3.1967 in der Stadt Okayama im Umfeld einer Blindenschule, zwei Jahre nach seiner Idee. Erstmal verlegte man 230 Blöcke in Haraoshima, ca. 3 km östlich des Hauptbahnhofs JR Okayama. Der Erfinder schenkte seine mit eigenem Geld produzierten Blöcke reihum an die Stadtverwaltungen, um Werbung für seine Idee zu machen. Doch die Aufträge blieben zunächst aus.

Erst 1970 wendete sich das Blatt, und im Zuge der urbanen Entwicklung wurden die Blöcke in einigen Großstädten eingebaut. Zehn Jahre nach der Erfindung waren die Erfahrungen so positiv, daß die größte japanische Eisenbahngesellschaft das System verpflichtend einführte. Weitere Städte zogen mit den Bürgersteigen nach, und seit 1985 stattet man den öffentlichen Raum in Japan konsequent damit aus: In Tokyo und Kyoto und anderen Großstädten sind praktisch alle wichtigen und zentralen Straßen auf den Bürgersteigen damit versehen. Wo die Tenji burokku das erste Mal eingesetzt wurden, stellte man 2010 an der Haraoshima-Kreuzung im Stadtteil Naka-ku ein dreiteiliges Denkmal am Rand des Bürgersteigs auf. "Die ersten Braille-Blöcke der Welt" steht da zu lesen. Die Initiative dazu geht auf Masahiko Takeuchi zurück, der 1964 bei den Paralympics in Tokyo im Tischtennis eine Goldmedaille gewann, und er sammelte die zur Anfertigung und Aufstellung des Denkmals benötigten 6,5 Mio Yen. Das Denkmal wurde natürlich am 18.3. enthüllt. Seitdem ist der 18. März Braille-Block-Tag.

"Tenji" bedeutet "Braille", und "burokku" leitet sich unter L->R-Verschiebung und Umwandlung in aussprechbare Silben durch Hinzufügung von "u" von "block" -> "b-u-rokk-u" ab: Braille-Blöcke. Nicht ganz korrekt, weil keine Zeichen kodiert werden wie in der Braille-Schrift, aber diese Kurzform beschreibt dennoch das Wesentliche: ins Pflaster eingelassene Blöcke mit erhabenen Markierungen zum Ertasten durch Blinde mit ihrem Führungsstock. Wenn die Sohlen nicht zu dick sind, kann man das sogar beim Drüberlaufen mit den Füßen ertasten. Man kann das natürlich auch umständlicher nennen: "Shikaku shougai-sha yuudouyou burokku" wäre der "Blindenführungsblock", und "Douroni okeru moujin yuudou shisutemu" wäre das "Blindenleitsystem auf der Straße".

Und weil die Tenji burokku in Okayama erfunden und das erste Mal eingebaut wurden, gibt es hier auch zwei Photos aus der Stadt Okayama: Hier wurde es ausprobiert, und von hier trat das System seinen Siegeszug um die Welt an, auch wenn sich ihr Einsatz außerhalb Japans eher auf Bahnhöfe, insbesondere Bahnsteigkanten, Bushaltestellen und U- und S-Bahnhöfe beschränkt und noch längst nicht überall zur Anwendung kommt. Übrigens können auch Blindenhunde trainiert werden, die Tenji burokku zu erkennen, an ihnen entlang zu gehen und bei Noppenplatten entsprechend zu reagieren.

Okayama, Tenji burokku an einer Straßenkreuzung, erhabene Strukturen in gelben Kunststeinen.

Okayama, Tenji burokku an einem U-Bahn-Eingang, Stahl auf Fliesen.


Literatur, Links und Quellen:
Seiichi Miyake: https://de.wikipedia.org/wiki/Seiichi_Miyake - https://en.wikipedia.org/wiki/Seiichi_Miyake
Seiichi Miyake:
https://www.welt.de/vermischtes/article190439337/Seiichi-Miyake-Er-half-seinem-Freund-und-erleichterte-Blinden-weltweit-das-Leben.html
Seiichi Miyake:
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/seiichi-miyake-der-mann-der-blinden-den-alltag-erleichterte-a-1258336.html
Ehrung durch ein Doodle:
https://www.google.com/doodles/celebrating-seiichi-miyake
ein Video zum Thema:
https://www.youtube.com/watch?v=XrWMbCELYLA
Japanische Seite zum taktilen Leitssystem:
http://tsrc.or.jp/anzen/history/


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