Bernhard Peter
Wächterfiguren: Nio (Torwächter)


Nio (Niou) sind paarweise auftretende Torwächter an Tempeltoren. Nio haben eine ausdruckstarke Haltung und einen wilden, abschreckenden Gesichtsausdruck mit hervorquellenden Augen und stark ausgeprägten Mimikfalten. Ihre Muskelpakete sind bei den Skulpturen kräftig betont wie bei einem Bodybuilder, denn den Nio werden riesige Kräfte nachgesagt. Die Hände tragen Waffen oder sind in aggressiver Geste vom Körper weggerichtet, bei der einen Figur des Paars mit gespreizten Fingern dem Eintretenden wild entgegengerichtet oder die Faust zum Angriff erhoben, bei der anderen Figur spannungsgeladen gesenkt in Erwartung einer notwendigen Abwehrreaktion. Die Gesamtgestik ist bei der einen Figur angreifend (aktive Verteidigung), bei der jeweils anderen abwehrend (passive Verteidigung). Normalerweise werden Nio mit nacktem Oberkörper dargestellt, damit man die Muskelpakete besser sieht. Nur ganz frühe Figuren tragen einen Brustharnisch. Nio-Figuren werden auf Honshu, Hokkaido und Shikoku aus Holz geschnitzt; wegen ihrer Größe werden sie ggf. aus mehreren Holzstücken zusammengesetzt. Aus extrem vielen Holzteilen bestehen z. B. die riesigen Nio vor dem Todai-ji in Nara.

Als Waffe können die Nio ein Kongo (Kongou, Vajra) tragen, das an beiden Enden nicht nur mit fünf oder drei, sondern auch nur mit einem Zinken vorkommt und dann wie ein kleiner doppelseitiger Spieß aussieht. Manchmal hält der eine Nio ein Kongo, der andere als Waffe ein Schwert. Eine Stoffbahn wird meist fliegend hinter dem Kopf durch die Luft gezogen, um der Dynamik der Erscheinung Nachdruck zu verleihen.

Die wichtigen Tore der Tempelanlagen, also die in den Hauptrichtungen und meist in gerader Flucht in Bezug auf die Hauptgebäude angeordneten und baulich herausgehobenen Tore, besitzen rechts und links des eigentlichen Durchganges Nischen, in denen die Nio stehen. Solche Tore werden als Nio-mon bezeichnet, Tor mit Wächterfiguren. Keine Regel ohne Ausnahme: In einigen Fällen stehen steinerne Nio frei ohne Torgebäude, z. B. am Eingang in den Zen-Tempel Reigen-ji bzw. Kenpou-san, überhaupt sind auf der Hauptinsel Kyushu, speziell in der Region Oita, steinerne Nio-Paare ohne schützendes Gebäude gebräuchlich.

       
Agyou     Kongou Rikishi     Naraen Kongou

Ihre Funktion ist die Abwehr böser Geister, die am Betreten der Tempelanlage gehindert werden sollen, ebenso Menschen, die Böses im Schilde führen, wie z. B. Diebe oder andere potentielle Übeltäter. Jeder, der nicht in frommer Absicht kommt, soll beim Anblick dessen, was ihn in diesem Leben oder im nächsten erwartet, die Lust auf sein Vorhaben verlieren. Die Nio gehen auf hinduistische Götter zurück, die vom Buddhismus als Beschützer des historischen Buddha und Schutzgottheiten des Buddhismus adaptiert wurden. Eine Schlüsselfigur ist Vajrapani (wörtlich: Vajra in der Hand Haltender), Leibwächter Buddhas, japanisch Kongoshu. Als zornige Manifestationen (Dharmapala) dieses Bodhisattvas Vajrapani können die Nio angesehen werden. Vom Namen her bedeutet Nio (Niou) "barmherzige Könige". Eine andere Bezeichnung ist Ni-ten (= 2 Götter, Götterpaar, wird aber auch für andere Götterpaare benutzt). Weil die Nio als Waffe oft ein Kongo (Kongou, Vajra) tragen werden sie auch Kongo-shin, Kongo-ten (Gottheit mit Vajra), Kongo rikishi oder ebenfalls Kongoshu genannt. Shu-kongo-shin ist eine Kombination von Naraen Kengo und Misshaku Kongo (s. u.) in einer einzigen Figur, beispielsweise im Todai-ji in Nara zu sehen. Ein weiterer Sanskrit-Begriff wäre Vajradhara, Vajra-Halter, gleichbedeutend mit Vajrapani. Im esoterischen Buddhismus gelten die beiden Nio als zwei Aspekte von Vairocana (Dainichi Nyorai).

Die Nio-Figuren stehen manchmal frei hinter einem niedrigen Lattenzaun, dann kann man ihre Wildheit und Expressivität genießen. Manchmal sind auch die Vorderseiten der Nischen komplett mit Maschendraht gegen Vögel verschlossen. Das führt häufig dazu, daß die oft sehr alten und wertvollen Figuren dahinter im Halbdunkel verstauben und immer unansehnlicher werden. Ein wenig erschrickt man immer, wie offen so alte und wertvolle Kunstwerke in den Öffnungen der Tore stehen, zwar durch das Dach vor Witterungseinflüssen geschützt, aber nicht vor Straßendreck. Selten sind sie gut gepflegt, was sich sehr nachteilig auf die Außenwirkung der Tempeltore auswirkt. In Nara am Todai-ji verschwinden die Nio gar hinter einer Bretterwand, so daß man gar nichts von den kolossalen Figuren hat. Dieser Schutz hat wohl auch damit zu tun, daß es früher eine häßliche Praxis gab, die Lafcadio Hearn in seinem Buch "Glimpses of an Unfamiliar Japan" beschreibt: Besucher kauten ein Stückchen weißes Papier und spuckten es in Richtung Nio: Bleibt die Matsche kleben, wird das Gebet erhört. Wenn die Matsche aber zu Boden fällt, war das Gebet ergebnislos. Dieser Aberglaube hatte dazu geführt, daß die über 800jährigen Meisterwerke völlig unansehnlich geworden waren.

       
Ungyou     Misshaku Rikishi     Misshaku Kongou

Seit dem 7. oder frühen 8. Jh. gibt es in Japan Nio-Figuren. Die ältesten erhaltenen Nio-Statuen Japans sind im Tempel Horyu-ji bei Nara am Chuumon zu finden; sie stammen aus dem Jahr 711, sind aus bemaltem Ton angefertigt und sind 3,78 m bzw. 3,75 m hoch. Ebenfalls aus dem 8. Jh. stammen mehrere Statuen des Todai-ji in Nara, aufbewahrt im Hokkedo (Sangatsudo). Die größten Nio-Statuen sind am Großen Süd-Tor (Nan-Dai-mon) des Todai-ji in Nara zu finden; sie messen 8,36 m und 8,42 m in der Höhe und wurden 1203 von den berühmten Bildhauern Unkei, Kaikei und ihrer Kei-Schule im Zuge von Wiederherstellungsarbeiten nach dem Genpei-kriegsbedingten Brand von 1181 angefertigt.

Die paarweise aufgestellten Figuren, gleichermaßen wild und grimmig, werden meistens in einem Detail unterschiedlich behandelt. Auf der einen Seite (rechts vom Eintretenden) steht die Agyo-Form oder A-Form, mit geöffnetem Mund, auf der anderen Seite (links vom Eintretenden) steht die Ungyo-Form oder Un-Form, mit geschlossenem Mund. Da "A" und "Un" kann man am ehesten mit unserem "A bis Z" oder "Alpha und Omega" vergleichen, es bedeutet Anfang und Ende aller Dinge, Geburt und Tod und damit das Universum und ist genauso vom ersten und letzten Laut im Sanskrit-Alphabet abgeleitet. In dieser Hinsicht werden die Nio der Tempel wie die Komainu an Schreinen behandelt. Die Agyo-Form ist die angreifende Variante, die Ungyo-Form die abwehrende Variante. Manche Nio sind farbig gefaßt, der rechte ist dann üblicherweise rot, der linke blau oder blaugrün. Eine solche Farbfassung ist z. B. auch am Tempel Horyu-ji bei Nara zu sehen.

Nio sind auch Bestandteile größerer definierter Göttergruppen, z. B. der Tenbu (Schutzgottheiten, Deva-Gruppe des japanischen Pantheons, einstige hinduistische Götter) und der Untergruppe der Nijuuhachi Bushuu (28 begleitende Gottheiten an der Seite der Senju Kannon). So sind zwei lebensgroße hölzerne Nio in der Gruppe der Nijuuhachi Bushuu im Sanjusangendo in Kyoto zu sehen, wobei als Agyo-Form Naraen Kengo dient und als Ungyo-Form Misshaku Kongo bzw. Missha-kongo. Misshaku Kongo (Sanskrit: Vajrapani) ist die abwehrende Variante mit latenter, zurückhaltender Kraft, die Arme zwar angespannt, aber gesenkt, Naraen Kengo (Sanskrit: Narayana) die angreifende Variante mit offen zur Schau getragener Kraft und erhobener Faust oder Hand.

 

Kyoto, Daigo-ji, Niomon, Agyo-Form, in der erhobenen Linken ein an beiden Enden einzinkiges Vajra.

 

Kyoto, Daigo-ji, Niomon, Ungyo-Form mit geschlossenem Mund und abwehrend gesenkten Händen.

 

die beiden Nio des Higashi Daimon (Niomon) des Ishiyama-dera in Otsu (Präfektur Shiga)

 

Kyoto, Ninna-ji, die beiden Nio des zweistöckigen Tores im Süden der Anlage.

 

Saigoku-ji in Onomichi (Präf. Hiroshima), eine der Wächterfiguren am Niomon, linkes Kompartiment

 

Saigoku-ji in Onomichi (Präf. Hiroshima), die andere Wächterfigur am Niomon, rechtes Kompartiment

 

Niomon des Bishamondo, Kyoto, Yamashina

 

Niomon des Taimadera, Taima, Katsuragi (Präfektur Nara)

 

Niomon des Taimadera, Taima, Katsuragi (Präfektur Nara)

Niomon des Yakushi-in in Takahashi (Präfektur Okayama)

Niomon des Yakushi-in in Takahashi (Präfektur Okayama)


Literatur, Links und Quellen:
A-Un-Konzept bei Wächterfiguren: http://www.aisf.or.jp/~jaanus/deta/a/aun.htm
auf Wikipedia:
https://en.wikipedia.org/wiki/Nio
Nio:
https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie/Waechtergoetter/Nio - https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie/Waechtergoetter
Nio:
http://www.onmarkproductions.com/html/nio.shtml
Abbildungen verschiedener Nio:
http://www.japan-photo.de/nio.htm
auf JAANUS:
http://www.aisf.or.jp/~jaanus/deta/n/niou.htm
Nio:
https://www.japanvisitor.com/japanese-culture/nio-guardians
Nio:
https://www.japan-talk.com/jt/new/nio
Sammlung von Nio-Bildern:
http://park.geocities.jp/emimaro372/Niousan.html
Sammlung von steinernen Nio:
http://blowinthewind.net/anioh.htm
Vajrapani:
https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie/Myoo/Vajrapani
Lafcadio Hearn: Glimpses of an unfamiliar Japan, 1st Series, 1894, Nachdruck 2012 bei The Floating Press, ISBN 978-1-77545-824-1


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