Bernhard Peter
Typisch japanische Dinge (13): Shimenawa und Shide


         
shimenawa         shide    

Unter einem Shimenawa versteht man ein heiliges Seil, oder besser ein Seil, das etwas Heiliges im Shintoismus markiert, vulgo Götterseil. Es trennt Heiliges vom Profanen und schließt üble Einflüsse vom Heiligen aus. Es kann entweder vor etwas aufgehängt werden, z. B. typischerweise vor dem inneren Bereich eines Schreins oder vor dem Eingang zu einem Schreinbezirk, an einem Torii, oder um etwas herumgelegt werden, einen Stein oder Baum z. B. oder um andere ein­drucks­volle natürliche Objekte, die als Yorishiro angesehen werden, also als Orte, von denen sich die Götter (Kami) angezogen fühlen könnten und als Wohnort wählen könnten. Ein mit einem Shimenawa abgegrenzter Ort ist daher prinzipiell als möglicher Ort der Anwesenheit eines Kami anzusehen.

Einer der berühmtesten heiligen Bäume (Shinboku) mit Shimenawa war bis 2010 der heilige Ginkgo-Baum am Tsurugaoka Hachiman-Schrein, Kamakura, bis er einem Taifun zum Opfer fiel. Oder ein Shimenawa kann zwischen zwei Objekten gespannt werden, wobei diese Objekte im Extremfall auch Felsinselchen sein können wie im Fall der Meoto-iwa (vermählten Felsen) beim Futami Okitama Jinja in der Bucht von Ise (Präfektur Mie). Auf der Schreininsel Houjou Kashima in der Präfektur Ehime, Shikoku, werden in ganz ähnlicher Weise die beiden äußeren Spitzen eines Felsriffs durch ein 45 m langes Shimenawa miteinander verbunden (daher auch Iyo Futami genannt). Auch zwei Bäume können durch ein längeres Seil, das um beide gelegt wird, "vermählt" werden, so z. B. die "vermählte" Kampferbäume (Meoto kusunoki) im Kumano Sanso Omiwa Jinja auf der Halbinsel Kii (Präfektur Wakayama). Solche heiligen Bäume gelten als Sitz der Kami und dürfen nie gefällt werden, weil das Unglück bringt.

In jedem Fall kennzeichnet ein Shimenawa eine Grenzlinie, hinter der ein besonders reiner, ritueller oder als heilig angesehener Bereich liegt, ein Ort oder Objekt mit einer spirituellen Aura. Dieses Symbol hat sich einst aus einer früheren Methode entwickelt, Besitz und Eigentum zu kennzeichnen, die als "Shime", Markierung oder Kennzeichnung, bezeichnet wurde. "Nawa" bedeutet Seil und war die gebräuchlichste Methode der Kennzeichnung. "Shime" basiert laut dem Shinto-Experten Kato Genchi auf dem Wort "shimeno" = verbotener Ort und erhält so die Bedeutung eines Tabubereiches, was absolut plausibel ist, aber es gibt auch andere Erklärungsversuche der Etymologie, wie "shimesu" = anzeigen, markieren oder "shimeru" = zusammenbinden.

Das Shimenawa wird heute meistens aus Reisstroh angefertigt, traditionell jedes Kardeel rechtsdrehend geschlagen, so daß sich die einzelnen Kardeele dann in Gegenrichtung zum Seil verdrillen. Alternativ kann auch Weizenstroh genommen werden. Früher war Hanf als Material üblich. Zwischen die einzelnen Schnüre können bei der Herstellung Zettel mit Bitten oder Wünschen an den entsprechenden Kami eingeflochten werden. Shimenawa werden im allgemeinen jährlich erneuert, wenn im landwirtschaftlichen Produktions­pro­zeß das entsprechende Reisstroh anfällt. Diese Einbindung des Symbols in landwirtschaftliche Zyklen schlägt die Brücke zu einem Fruchtbarkeitsbezug, und die Shimenawa stehen auch mit Fruchtbarkeitsriten in Verbindung, was sich auch in der Wortwahl der "vermählten" Felsen, von denen einer als männlich und einer als weiblich angesehen wird, oder Bäume ausdrückt, was eine glückverheißende Fruchtbarkeitssymbolik andeutet.

Aus dem meist aus zwei Kardeelen bestehenden Seil dürfen einzelne Halme des Reisstrohs wie Fäden nach unten heraushängen. Vermutlich symbolisieren sie die früher aus solchen Seilen heraushängenden Reiswurzeln. Wenn das Seil vor dem Heiligtum eines Schreines aufgehängt wird, ist es meistens im Zentrum dicker als an den Seiten. Wenn das Seil um ein heiliges Objekt herumgeführt wird, ist es meist von gleichbleibender Dicke. Wird ein ungleich dickes Seil verwendet, macht man das meistens so, daß das dickere Ende nach rechts zeigt, vom Besucher des Schreines aus gesehen.

Dazu werden am Seil nach unten herabhängende Shide befestigt, die rituellen, zickzack-gefalteten weißen Papierstreifen. Sie werden zu den Heihaku gerechnet, den Opfergaben für die Götter. Sie haben eine ähnliche Funktion wie die Götterseile zur Markierung von Grenzlinien, hinter denen Orte mit spiritueller Aura liegen, und werden gerne mit ersteren kombiniert. Früher bestanden sie aus Yu (Yuu), einem groben Stoff aus den Maulbeer-Bastfasern; heute nimmt man starkes Papier (Washi). Diese Streifen können 2, 4 oder 8 mal gefaltet sein, und es gibt mehrere Stilrichtungen, wobei die dekorativsten die jeweiligen der Schreine von Ise, Shirakawa und Yoshida sind. Diese rituellen Ornamente verstärken die Markierung des Seiles als rituelle Grenze.

Abb.: Kyoto, an einem Schrein auf dem Gelände des Tempelkomplexes Tofuku-ji

Abb.: Uji, im Schrein Ujigami-jinja, Shimenawa um einen Baum

Abb.: Kyoto, Fushimi Inari Taisha, Shimenawa vor dem Schrein

 

Abb. links: Kyoto, Kitano Tenman-gu, Shimenawa um ein Wasserbecken. Abb. rechts: Uji, Ujigami-jinja, Shimenawa um einen Felsen.

Abb.: Kyoto, Toyokuni-Schrein, Shimenawa oben am Tor.

Abb.: Himeji, Shimenawa am Gokoku jinja.

Abb.: Uji, Ujigami-jinja, Shimenawa vor einem Quellhäuschen.

Die Größe des Shimenawa korreliert in etwa mit der Bedeutung und Größe des Schreines. Eines der mächtigsten Shimenawa Japans befindet sich am großen Schrein Izumo Taisha in Izumo, Shimane, dem zweitheiligsten Schrein Japans, vor der Kaguraden-Halle. Dieses Seil hat eine Länge von 13,5 m und ein Gewicht von 4,5 t. Jedes Kardeel hat an der dicksten Stelle mehr als 80 cm Durchmesser.  Für seine Herstellung ist das Stroh von 3 ha Reisfeldern nötig, und über 800 Menschen sind in die Herstellung einbezogen, wenn es wieder einmal ausgetauscht werden muß. Auch das alle drei Jahre erneuerte Shimenawa des Miyajidake-Schreins in Kitakyushu (Kitakyuushuu, Fukuoka-ken) erhebt den Anspruch, das größte zu sein, mit einer Länge von 13,5 m, einem Gewicht von 5 t und einem Gesamtdurchmesser von 2,5 m. Eine Besonderheit gibt es am Yoshida-Schrein in Kyoto, im Stadtbezirk Sakyo-ku: Insgesamt acht Shimenawa verbinden den Yaku-zuka, den "Elendshügel", mit dem davor liegenden Honden.

Shimenawa kommen aber nicht nur an Schreinen oder besonders eindrucksvollen Naturdenkmälern vor, sondern werden auch in Privathaushalten z. B. als Bestandteil des Neujahrsschmucks angebracht. Auch hier ist die Idee hinter dem Brauch, das neue Jahr als frisches, reines Jahr zu beginnen und entsprechend zu markieren und böse Geister vom "Betreten" des neuen Jahres abzuhalten.

Ein ganz anderes Vorkommen gibt es bei Sumo-Ringern: Ein Yokozuna, also ein Großmeister dieser Sportart, der das höchste Ansehen genießt, trägt während der Eintrittszeremonie und auch am Ende eines Sumo-Wettkampfes einen zusätzlichen Gürtel aus einem Shimenawa, von dem mehrere Shide schürzenartig dekorativ vorne herabhängen. Nur die Meister dieses höchsten Ranges dürfen ein Shimenawa bei zeremoniellen Anlässen tragen. Dem liegt der Glaube zugrunde, daß so ein Großmeister von einem Kami als Sitz gewählt worden ist, daß er also ein lebender Yorishiro ist. Auch der Sumo-Ring wird von einer Art Shimenawa umspannt.

Mit den Shimenawa verwandt sind die Chinowa. Das sind ringförmige Seile, die aus Schilfgras = Chigaya = Susuki hergestellt werden. Chinowa bedeutet also Schilfgras-Kranz. Diese Seilringe werden anläßlich bestimmter jahreszeitlicher Reinigungszeremonien (Harae) in einen Torii oder in ein improvisiertes Bambusgestell eingehängt. Das Hindurchschreiten, meist mehrfach, soll eine reinigende Wirkung haben und vor Unbill und Krankheiten schützen.

heiliger Baum mit Shimenawa im Omiwa jinja in Sakurai (Präfektur Nara)

heiliger Baum mit Shimenawa im Omiwa jinja in Sakurai (Präfektur Nara)

Shimenawa an einem Holzbalkenzaun im Omiwa jinja in Sakurai (Präfektur Nara)

Ein Shime-Torii ist eine spezielle Form des Torii, bei dem ein Shimenawa anstelle der Querbalken die Pfosten verbindet.

Beide Abb. des Shime-Torii stammen aus dem Omiwa jinja in Sakurai (Präfektur Nara).


Literatur, Links und Quellen:
Motosawa Masashi: Shimenawa, in: Encyclopedia of Shinto: http://eos.kokugakuin.ac.jp/modules/xwords/entry.php?entryID=317
Inoue Nobutaka: Shide, in: Encyclopedia of Shinto:
http://eos.kokugakuin.ac.jp/modules/xwords/entry.php?entryID=316
Izumo Taisha:
http://www.kankou-shimane.com/en/?p=3198
Shimenawa - Grenzmarkierungen der Götter:
https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Bauten/Schreine/Shimenawa
Bilder der Herstellung eines Shimenawa:
http://wadaphoto.jp/maturi/sime1.htm
Toya Manabu: &ldquoShimenawa&rdquo - the Sacred Rope:
http://www.nippon.com/en/views/b05204/
Shimenawa:
https://www.hisgo.com/us/destination-japan/blog/shimenawa_sacred_ropes_in_japan.html
Brian Bocking: A Popular Dictionary of Shinto, 220 S., Verlag: Routledge Chapman Hall, 1996, ISBN-10: 0700704469, ISBN-13: 978-0700704460, oder als Taschenbuch: Curzon Press Ltd, ISBN-10: 0700704477, ISBN-13: 978-0700704477.
Shimenawa:
https://de.wikipedia.org/wiki/Shimenawa und https://en.wikipedia.org/wiki/Shimenawa
Nicholas Bornoff, Michael Freeman: Things Japanese - Everyday Objects of Exceptional Beauty and Significance, 143 S., Verlag Periplus, 2014, ISBN-10: 480531303X, ISBN-13: 978-4805313039, S. 112-113


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