Bernhard Peter
Wayang-Kulit-Figuren aus Indonesien


Figuren-Datenbank: Gunungan, Kayonan, Api und Pohon-kepuh

Verwendung von Gunungan und Kayonan:
Der fächerförmige Gunungan ist eine der wichtigsten Figuren bei einer Wayang-Kulit-Aufführung, und zugleich ist er keine Figur im Sinne einer individuellen Persönlichkeit einer epischen Geschichte, sondern er ist ein universal zu jeder Geschichte einsetzbares Element. Denn der Gunungan zeigt Beginn und Anfang von Spielszenen oder Geschichten an, so wie in unseren Theater der "Vorhang", und er wird während des Spiels als dramaturgisches, spannungssteigerndes Element eingesetzt. Bevor das Spiel beginnt, steht er ruhig im Zentrum der Leinwand, während rechts und links die benötigten Figuren aufgestellt werden. Er trennt damit nicht nur die rechts- und die linksblickenden Figuren, sondern auch die zweier opponierender Lager, die in Bälde gegeneinander antreten werden und um die Herrschaft des Guten über das Böse, der Ordnung über die Unordnung ringen werden. Wenn das Spiel noch nicht angefangen hat, steht er leicht schräg. Der Gunungan wird aktiv vom Dalang am Anfang und am Ende des Spiels, zwischen einzelnen Szenen als Szenenwechsel-Indikator und auch vor besonders wichtigen oder emotional starken Auftritten eingesetzt, um die Bedeutung der nachfolgenden Szene zu unterstreichen. 

Diese Figur wird beileibe nicht einfach nur gezeigt. Sie kommt angeflogen, angeflackert, angetanzt, dreht sich um die eigene Achse, wabert rhythmisch wieder davon, weht wieder aus der Ferne über das Tuch, wobei sich die Größe und Form des Schattens ständig ändern, ehe sie sich endlich nach vielem Schlagen und Zwirbeln auf dem Bananenstamm rechts außen zur Ruhe niederläßt und die nachfolgende Szene sich unter seiner Obhut entwickeln läßt. Er steht dort am Rande und bleibt für die Zuschauer sichtbar. Manchmal kommen auch mehrere Gunungan gleichzeitig zum Einsatz, was dem Spiel noch mehr Dynamik verleiht. Eine weitere Funktion des Gunungan ist es, selbst Kulisse und Szenenbild sein, er kann z. B. Wald oder Meer, oder auch Elemente wie Feuer, Erde, Wind und Wasser repräsentieren, je nach Kontext, oder er steht einfach für die Welt als Ganzes. Wenn Wind dargestellt werden soll, fegt der Gunungan von einer Seite zur anderen wabernd über die Leinwand. Und wenn Feuer symbolisiert werden soll, wird er umgedreht (Flammenrückseite nun nach vorne zum Dalang hin), wobei der Zuschauer nach wie vor die schwarze Silhouette sieht und das Umdrehen höchstens anhand der asymmerisch eingebauten Tiere erkennen könnte, bei sehr genauem Hinsehen. Aber es geht ja um die Symbolik. Und wenn die Aufführung vorbei ist, wird der Gunungan oder Kayonan wieder in der Mitte der Leinwand aufgepflanzt, diesmal gerade.

Formen von Gunungan und Kayonan:
Der Gunungan besitzt selber keine beweglichen Teile und nur einen einzigen Mittel-Gapit, der keinerlei Biegungen aufweist, sondern gerade sich stetig verjüngend bis zur Spitze verläuft. Die Figur ist auf den ersten Blick symmetrisch. Von der Form her und von den Details her gibt es große Unterchiede zwischen javanischen und balinesischen Ausprägungen. Auf Java heißt die Figur Gunungan; es gibt sie in verschiedenen Größen. Die Figur ist ganz grob fünfeckig mit einem rechteckigen oder trapezförmigen Unterteil und einer großen dreieckigen Spitze, natürlich mit fließenden Übergängen. Auf Bali heißt die Figur Kayon, Kayonan oder auch Kekayonan. Die Funktion ist gleich, doch das Aussehen ist anders: die Figur ist breit-lanzettförmig, oben gerundet und baumähnlich mit mehreren Etagen geschwungener Äste, die Ornamente sind meist rein floral.

Bei javanischen Gunungan kann man verschiedene Motive erkennen: Im unteren Teil bewachen zwei mit Keulen o.ä. bewaffnete grobe Wächter (Yaksha) rechts und links das in der Mitte befindliche Himmelstor (ein überdachtes Portal), darüber sind zwei einwärts gerichtete Garuda-Köpfe zur Abwehr des Bösen eingearbeitet (vgl. Garuda Munkur bei Charakter-Figuren), möglicherweise mit stiliserten Federn oder Flügeln an der Außenseite, und darüber erhebt sich der stilisierte Weltenbaum, dessen Geäst von allerlei Tieren bevölkert wird, unten Tiger (Macan) und Rind (Banteng), etwas höher z. B. Affen, und noch höher Vögel. Der Stamm des Baumes ist oft von einer Schlange umwunden.

Der balinesische Kayonan ist hingegen ganz Weltenberg im äußeren Umriß und Weltenbaum im inneren Detail. Entsprechend wirken balinesische Kayonan deshalb auch noch symmetrischer als javanische Gunungan, denn bei letzterem ist der figürliche Schmuck im Detail asymmetrisch. Ganz oben oder in der Mitte erscheint auf dem Gunungan gerne noch ein Mangkara-Gesicht oder ein Dämonenkopf mit zwei weit aufgerissenen Augen (Sanskrit Kala, auch Bhoma genannt). Nur ganz selten sind Vorder- und Rückseite eines Gunungan gleich bemalt, das sind seltene Ausnahme-Exemplare. Viel häufiger wird die Rückseite rot oder mit schwarz-rot-orangenen Flammen bemalt, in deren Mitte gerne ein großes Mangkara-Gesicht abgebildet wird. Der javanische Gunungan kann in der Größe stark variieren, es gibt kleinere mit ca. 60-70 cm (ohne Gapit), und größere, die locker um die 70-100 cm (ohne Gapit) erreichen können. Der balinesische Kayonan ist kleiner. 

Ähnliche andere Figuren: Api und Pohon-kepuh:
Es gibt noch andere Figuren im indonesischen Schattenspiel, die so manche Eigenschaft (keine beweglichen Teile, nur 1 Stab, flächige Gestaltung, kein Spielcharakter, sondern verzierte Kulisse und symbolische Signalfigur) mit dem Gunungan/Kayonan teilen, aber eine ganz andere Bedeutung haben. Diese Figuren sind nicht Symbol der Ordnung, sondern der Unordnung, der Zerstörung. Da wäre zunächst der Gegenspieler des Kayonan, der Unterweltsbaum oder Hexenbaum Pohon kepuh, der sich durch total asymmetrische Gestaltung von ersterem unterscheidet. Das ist ein wilder Kapokbaum mit einer Hexe im Geäst, mit Totenköpfen bzw. Friedhof zu ihren Füßen und mit Hunden als Tierdarstellungen. Auch das zerstörerische Feuer (Api, Feuerdämon auf Bali) gilt als Gegenspieler des Kayonan, es handelt sich um ein grimmiges, frontal dargestelltes Gesicht in einem tropfenförmigen, oben spitz zulaufenden Flammenkranz, diese Figur ist völlig symmetrisch, und von einem furchteinflößenden Gesicht im unteren Bereich aus gehen radial und symmetrisch strahlenförmige fammenförmige Linien nach oben.

Symbolik von Gunungan und Kayonan:
Daß beim Gunungan der Weltenberg gemeint ist, sieht man schon am Namen, denn Gunung = Bezeichnung für einen Berg, in Indonesien meist ein Vulkanberg. Der Berg Meru ist Zentrum und zentrale vertikale Achse in der klassischen hinduistischen Mythologie. Und beim Kayonan steht die Bedeutung als Weltenbaum im Vordergrund, denn "Kayon" bedeutet "Wald, Baum, Bäume", abgeleitet von "Kayu" = "Holz".

Der Gunungan bzw. Kayonan hat eine ganz anders positiv besetzte Symbolik als seine selteneren darstellerischen Gegenpole, er ist Symbol der göttergewollten Ordnung der Welt, des kosmischen Gleichgewichts, des geordneten Lebens innerhalb dieser Ordnung - jeder an seinem Platz. Die Tierwelt im Geäst des Gunungan machen ihn zu einem Lebensbaum im wahrsten Sinne des Wortes. Die beiden Yaksha-Wächter und die geschlossene Himmelstür dazwischen sind Symbole für den regulierten Zugang zu dieser geordneten Welt, die nur Bestand hat, wenn es ein Drinnen = Entsprechung und ein Draußen = Nichtentsprechung gibt und dieser Unterschied gewahrt bleibt, oder anders ausgedrückt, das ist die Grenze zwischen Recht und Unrecht, Ordnung und Chaos, Leben und Verderben. Als symbolischer Träger der kosmischen Ordnung steht diese Figur für Glück und Schutz für jeden, der seinen Platz innerhalb dieser Ordnung einnimmt. Und weil der Gunungan / Kayonan die kosmische Ordnung darstellt, die letztendlich Anfang und Ende aller Existenzen ist, so dient die Spielfigur auch als Symbol für Anfang und Ende aller Handlungen in der Schattenspielaufführung.

Neben dieser Sichtweise gibt es noch viele andere Interpretationen: Man hat die Tiere als menschliche Versuchungen interpretiert, das symbolische Tor als Zugang zum menschlichen Innenleben, und die beiden Yaksha als Gewissen, als moralische Instanz an der Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Oder die fünf Seiten des Gunungan wurden den fünf Elementen zugeordnet, um diese Existenzgrundlagen zu Einem zu machen, wodurch der Gunungan als Symbol der Überwindung des Lebenskampfes und Befreiung von Partikularinteressen gedeutet wurde. Wahrscheinlich gilt hier wie bei so vielen Figuren: Es ist, wozu es der Dalang macht. Interessanterweise ist das eine Spielfigur, die erst im 15. Jh. ins Portfolio des Dalangs kam und seitdem nicht mehr wegzudenken ist, die Figur wurde als erst in der islamischen Zeit auf Java eingeführt.

Literatur, Links und Quellen:
Thomas Moog, Hardjowirogo: Java - Wayang Kulit, Göttliche Schatten: 1300 Namen, Mackinger-Verlag, 2013, 301 S., ISBN-10: 3950321470, ISBN-13: 978-3950321470, S. 128
Christiane Franke-Benn: Schattenspielfiguren aus Mitteljava, Versuch und Anleitung, die Individualität einzelner Figuren selbst zu bestimmen, Verlag: Harrassowitz, Wiesbaden 1981, ISBN 10: 3447022051, ISBN 13: 9783447022057, S. 131-132
Eintrag in der Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gunungan - https://en.wikipedia.org/wiki/Gunungan_(wayang
Gunungan in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden:
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/3909955
Gunungan auf Doc.wayang.io:
https://doc.wayang.io/chapter-one/gunungan
Gunungan im British Museum, London:
https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_As1859-1228-608 - https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_As1939-04-51 - https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_As1859-1228-493 - https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_As1939-04-50
Gunungan in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden:
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/3909956 - https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/1528967
Api = Agni im British Museum, London:
https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_As1969-07-35
Gunungan Blumbangan im Museum of International Folk Art: https://collection.internationalfolkart.org/objects/25168/gunugan-blumbangan
Gunungan Gapuran im Museum of International Folk Art:
https://collection.internationalfolkart.org/objects/25167/gunugan-gapuran
Gunungan im Museum of International Folk Art:
https://collection.internationalfolkart.org/objects/23839/kayon-siwa-or-gunungan-mountain-also-known-as-kayon-tre
Gunungan Merapi im Museum of International Folk Art:
https://collection.internationalfolkart.org/objects/26696/wayang-gunungan-merapi


Übersicht über die Charaktere des Wayang Kulit

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