Bernhard
Peter
Wayang-Kulit-Figuren
aus Indonesien
Figuren-Datenbank: Brahala, Pamurtian und Triwikrama
Brahala -
ein angsteinflößender Zustand
Brahala ist keine einzelne
Figur, sondern ein Zustand. Der Ausdruck ist zusammengezogen aus
den javanischen Wörtern bubrah + ala, das bedeutet beschädigt +
häßlich. Brahala ist nicht ein echter Charakter in einer
Geschichte, sondern eine entfesselte Eigenschaft, eine
Verwandlung in einen anderen Zustand. Brahala ist das, wozu
manche Figuren fähig sind, quasi die Inkarnation einer heiligen
Figur; und wenn es dazu kommt, daß Figuren in den Zustand
Brahala eintreten, ist das wie ein brüllender Orkan mitten in
einer Geschichte: Ja, die Zuschauer bekommen es richtig mit der
Angst zu tun, wenn ein Charakter in den extremen und
furchteinflößenden Zustand Brahala übergeht: Dann ist man am
besten ganz klein und fällt nicht auf, wenn die entfesselte
Gewalt auftritt und über den Schattenbildschirm tobt. Mögen
andere die Opfer sein! Und Opfer gibt es auf jeden Fall.
Was ist
Brahala und wie erreicht man es?
Wenn eine Figur etwa bei einem
Streit oder Konflikt in allergrößten Zorn gerät, dann kommt es
zum Triwikrama (= Verwandlung, tri = drei, Krama = physischer
Zustand): Die Figur wird riesengroß und entfesselt alle ihr
innewohnenden Kräfte, die nun bereit sind, alles zu zerstören,
was ihr in die Quere kommt. Höchster Zorn in einer gerechten
Sache kann immense Energien freisetzen, die sich gegen alles
richten, was der in Zorn geratenen Figur im Wege steht. Brahala
ist ein Zustand, der alles zerstören kann und dies auch tut,
wenn man sich der Figur in den Weg stellt. Brahala ist der
gerechte Zorn, der über alle diejenigen kommt, die einen
sinnlosen Streit gegen Recht und Moral anfangen und nicht wissen,
wen sie vor sich haben. Dann bekommen sie die Quittung in Form
eines mächtigen, gewaltbereiten Riesen, der außerhalb der
Kontrolle agiert. Wir unterscheiden also Brahala = Zustand,
Endergebnis, Triwikrama = Umwandlung eines Charakters in diesen
Zustand, und die Wayang-Figur, die das Ergebnis von Triwikrama
darstellt, wird auch Brahala genannt.
Wer kann
den Zustand Brahala erreichen?
In erster Linie ist es der
Gott Betara Wisnu. Am gefährlichsten ist Wisnu, wenn er vor Zorn
außer Kontrolle gerät: Dann wackelt die Welt. In zweiter Linie
sind es auch seine Inkarnationen Kresna und Arjuna Sasrabahu, die
diese Fähigkeit haben. Die Brahala-Variante von Kresna (typisch
ist seine Cakra-Waffe) wird in Bali Pamurtian genannt.
Brahala
bei Kresna
Kresna z. B. gerät in
heiligen Zorn, als er im Mahabharata den Streit in Astina
schlichten wollte und keinen Erfolg hatte. Wenn Prabu Kresna
Triwikrama vollzieht, wird die Figur auch Balasrewu genannt.
Kresna erlebte zweimal diese Verwandlung, das erste Mal, als Dewi
Rukmini stahl und Geschlechtsverkehr haben wollte, und das zweite
Mal als Botschafter in Astina (Hastinapura). Sein Ziel war es,
die Rückgabe der Königreiche Amarta und Astina von den Korawas
zu verhandeln, und angesichts Duryodhanas Täuschung und
Verleugnung wurde er zu Brahala, verwüstete und zerstörte den
Palast von Astina (die Halle des Palastes konnte seinen Körper
nicht mehr fassen, die Wände brachen weg ein und das Dach
stürzte ein) und tötete Destarastra und Gendari, weil die
Korawas ihr Versprechen nicht einhalten wollten und versuchten,
ihn anzugreifen. Die restlichen Korawas und die anderen
Palastbewohner flohen angesichts dieser entfesselten
Zerstörungskraft in wilder Panik, um sich zu retten. Im Zustand
des Brahala tötete Kresna ferner Sisupala. Dieser Zustand ist
Kresnas übernatürliche Kraft. Das Problem ist nur: Bliebe er
unkontrolliert, würde er so die Welt zerstören. Deshalb greifen
die Götter rechtzeitig ein, um die Welt zu retten. Kresna muß
nicht zwingend wütend sein, um Brahala zu werden, und
ebensowenig zwingend ist es, daß er im Zorn auch wirklich immer
Brahala wird.
Brahala
bei Arjuna Sasrabahu
König Arjuna Sasrabahu wurde
im Ramayana ein erstes Mal wütend, als er von Bambang Sumantri,
nun seinem Patih Suwanda, Premierminister im Königreich
Maespati, herausgefordert wurde und er gegen ihn kämpfte. Er
konnte seinen Feind nicht besiegen und suchte Beistand bei den
Göttern. Diese offenbarten ihm, daß er über außergewöhnliche
Kräfte verfügte, die noch nicht zum Einsatz gekommen waren.
Daraufhin verwandelte er sich in Brahala und besiegte
schließlich Patih Suwanda. Er verwandelt sich ein zweites Mal
während seines Kampfes mit Dasamuka, dem König von Alengka,
durch Triwikrama in Brahala.
Doch der heilige Zorn ist nur EIN Weg, Brahala zu erreichen. Es gibt einen zweiten Weg, ganz ohne Zorn, durch die Absicht, seine übernatürlichen Kräfte zu entfesseln, indem man ein heiliges Mantra rezitiert oder eine bestimmte Meditation vollzieht. Arjuna Sasrabahu wurde beispielsweise Brahala, als er den Fluß Yamuna staute, ebenso, als er den Fluß Ganges staute, damit seine Königin, Dewi Citrawati, darin baden, schwimmen und Vergnügen haben konnte. Die große Überschwemmung durch den Stau trifft auch das Lager von Dasamuka. In diesem Sinne ist Triwikrama eine kraftvolle innere Energie, die man mittels spezieller spiritueller Techniken freisetzen und nutzen kann, wenn man sich mit ganzem Herzen und furchtlos für eine gute Sache einsetzt.
Brahala
bei Anoman
Auch von Anoman (Hanuman), dem
Sohn von Dewi Anjani, ist eine Triwikrama-Version bekannt, bei
der der ganze Körper von einem Flammenkranz umgeben ist. Er
vollzieht z. B. Triwikrama, als er einst in diplomatischer
Mission den Ozean in Richtung Königreich Alengka überquerte und
von Wilkataksani, dem Riesensohn von Prabu Rahwana, angegriffen
und verschluckt wurde. Während Anoman sich im Rachen des Riesen
befand, machte er Triwikrama, durchtrennte durch die schlagartige
Volumenvergrößerung dem Angreifer von innen die Kehle und
tötete Wikataksani auf der Stelle.
Wer kann
noch alles Brahala erreichen?
Auch Betara Guru, Betara
Ismaya oder König Darmakusuma können Brahala erreichen. Auch
Dasamuka kann Triwikrama durchführen; normalerweise hat Dasamuka
nur einen Kopf, aber nach Triwikrama hat er zehn Köpfe und einen
viel größeren Körper. Ähnliche, aber nicht ganz so
furchterregende Zustände können Yudistira, Srikandi und
Sumbadra erreichen, auch diese sind im Zorn äußerst unangenehm.
Puntadewa oder Yudistira wird bei der Erreichung von Brahala Dewa
Amral genannt (im Stück Dewa Amral vollzieht er
Triwikrama). Auch Antareja kann Triwikrama vollführen, danach
wird er im ostjavanischen Wayang mit Drachengesicht und
schuppigem Körper dargestellt. In Bali werden die zornigen
Zustände der wichtigsten Götter Siwamurti (Betara Guru),
Brahmamurti (Brama), Vishnumurti (Wisnu) oder Kalamurti (Kala)
genannt.
Brahala -
außerhalb des ethischen Zielkorridors
Das Problem an Brahala ist,
daß eine solche Eigenschaft außerhalb der Ethik steht.
Normalerweise ist das wünschenswerte Ideal, seine Emotionen
unter Kontrolle zu halten, Selbstkontrolle zu üben, seinen Zorn
lieber mal herunterzuschlucken, nicht zu hassen und dafür durch
Disziplin und Geduld zu glänzen. Brahala ist das Gegenteil, es
ist völliger Kontrollverlust, entfesselter Zorn, blindwütige
emotionale Explosion aufgrund intensiver Wut. Deshalb dürfen
auch nur wenige Charaktere Brahala erreichen, und das sind gerade
solche, deren geistige Disziplin unter normalen Umständen
völlig außer Zweifel steht: Wisnu, Kresna, Arjuna. Und weil der
Brahala-Zustand weit außerhalb der javanischen Ethik steht, ist
so ungeheuer gefährlich und angsteinflößend, denn hier werden
die Grenzen gesellschaftlicher Norm gesprengt: Wer Brahala
erreicht, steht außerhalb der Ethik, außerhalb der Norm,
außerhalb jeder Kultiviertheit, und er ist auch nicht mit den
Kulturtechniken der Gesellschaft mehr einzufangen. Und angesichts
eines solchen Zustandes kann einen nur die nackte Angst packen,
auch als Zuschauer.
Aussehen
der Brahala-Figuren
Der normale Kopf mit
göttlichem oder edlem Gesichtsausdruck weicht zornigen
Gesichtern mit aufgerissenen Kugelaugen, gefletschten Mäulern
und scharfen Zähnen, manchmal auch mit gebleckter Zunge. Vor
allem bleibt es nicht bei einem einzigen Gesicht, Brahala-Figuren
weisen meistens viele Köpfe bzw. Gesichter auf, die in alle
Richtungen schauen, frontal, nach vorne, nach hinten, und die
sogar an ganz unüblichen Stellen sein können, im Kopfputz, in
der Krone, zwischen den Beinen. Ebenso vermehrt sind die Arme:
Brahala-Figuren können sechs, acht oder mehr Arme haben, die
alle unterschiedliche Waffen (Dreizacke, Haumesser, Kris, Pfeile
etc.) tragen, die in alle möglichen Richtungen zeigen: Solche
Figuren sind im wahrsten Sinne des Wortes rundum angriffsbereit.
An ihren Schultern und Armen können zusätzlich kleine Hände
angebracht sein, um die gleichzeitig agierenden Fähigkeiten noch
einmal zu vermehren. Meistens wird auf bewegliche Arme
verzichtet, solche Figuren sind meist flächig und haben nur
einen einzigen Mittel-Gapit.
Das Haar kann genauso bildhaft explodieren:
"Dreadlocks" oder stacheliges oder flammenartiges Haar
ersetzten die normale Frisur; die Haare scheinen sich in
vielzüngige Flammen aufzulösen, die manchmal bis zu den Füßen
reichen. Ins Haar eingebaut können weitere Waffen vorhanden
sein. Schlangen ersetzen den Schmuck in Form von Halsketten,
Armspangen oder Beinreifen.
Da zu Beginn des Wayang-Spiels die Figuren der Größe nach
aufgebaut werden, steht eine Brahala-Figur als eine der größten
des Sets ganz oder weit außen am Feldrand. Kommen mehrere zum
Einsatz, werden sie außen zu beiden Seiten der Leinwand
aufgepflanzt und begrenzen die Spielfläche bis zu ihrem Einsatz.
Literatur,
Links und Quellen:
Thomas Moog, Hardjowirogo:
Java - Wayang Kulit, Göttliche Schatten: 1300 Namen,
Mackinger-Verlag, 2013, 301 S., ISBN-10: 3950321470, ISBN-13:
978-3950321470, S. 75
Christiane Franke-Benn: Schattenspielfiguren aus Mitteljava,
Versuch und Anleitung, die Individualität einzelner Figuren
selbst zu bestimmen, Verlag: Harrassowitz, Wiesbaden 1981, ISBN
10: 3447022051, ISBN 13: 9783447022057, S. 132
Eintrag in der Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Brahala - https://id.wikipedia.org/wiki/Brahala
Brahala Kresna in der Yale University Art Gallery: https://artgallery.yale.edu/collections/objects/236616
Brahala: https://wayangkita.sv.ugm.ac.id/brahala/
Brahala Ireng: Museum of international Folk Art: https://collection.internationalfolkart.org/objects/25177/brahala-ireng
Brahala Putih: https://collection.internationalfolkart.org/objects/25178/brahala-putih
Brahala Hitam: https://www.granger.com/0615201-indonesia-wayang-kulit-shadow-puppet-figure-of-brahala-hita-image.html
Anoman Triwikrama, Museum of International Folk Art: https://collection.internationalfolkart.org/objects/24767/anoman-triwikrama
Pamurtian in den Staatlichen Museen zu Berlin: https://recherche.smb.museum/detail/121678/pamurtian
Brahala Putih im
Museum of International Folk Art: https://collection.internationalfolkart.org/objects/25178/brahala-putih
Übersicht über die Charaktere des Wayang Kulit
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