Bernhard Peter
Farbe auf der Stirn- heilige Zeichen

Tilak, Tilaka
Tilak oder Tilaka = ein Zeichen, das Menschen aus religiösen Zwecken auf der Stirn oder anderen Stellen ihres Körpers tragen. Im einfachsten Fall ist es ein runder Punkt, es können insbesondere bei der Damenwelt sehr komplexe und wertvolle Kreationen sein. Oder es nimmt bestimmte Formen an, um die Gefolgschaft zu einem bestimmten Gott zu symbolisieren.

Das Tilak wird angebracht an einer Stelle namens Ajna Chakra, über der Nasenwurzel zwischen den Augenbrauen. Das ist der Ort des dritten, spirituellen Auges. Einem Energieverlust an dieser Stelle soll durch das Tilaka vorgebeugt werden. Diese Stelle ist auch der Sitz der Seele bzw. des Selbstes, Atman. Einige glauben auch, daß sich die Energien der Nadis (Nerven) Ida und Pingala an dieser Stelle der Stirn treffen. Das Tilak soll diese empfindliche Stelle kühlen (nach ayurvedischer Zuordnung) und die Nerven stärken. Somit hat das Stirnzeichen sowohl eine schmückende als auch eine unterscheidende und auch eine schützende Funktion.

Das Material und die Farbe ist sehr unterschiedlich: Asche (Bhasma, weiß-grau), Lehm, vorzugsweise vom Ufer heiliger Flüsse, Sandelholzpaste (Chandan, gelb), ggf. mit pflanzlichen Zusätzen, die in der ayurvedischen Medizin das Attribut „kühlend“ haben, Kumkum, eine orangefarbene Paste aus pulverisiertem Kurkuma-Wurzelstock, Zinnoberrot, Sindoor (oder Sindura, rotes Pulver aus mit Löschkalk alkalisiertem Curcuma) u.v.a.m. Curcuma ist pH-abhängig gelborange oder rot, denn seine drei sehr ähnlichen farbgebenden Komponenten Curcumin (Hauptkomponente), Demethoxycurcumin und Bisdemethoxycurcumin sind deprotonierbar unter Farbvertiefung bis ins Tiefrote. In Nepal wird das Stirnzeichen "Tika" genannt, es handelt sich dabei um eine Mischung aus einem roten Pulver namens Abir, Joghurt und Reiskörnern.

Bei einem Laien ist das Standard-Tilak der runde Punkt, der nach einer Puja oder Arati-Zeremonie beim Tempelbesuch rituell aufgetragen wird. Er besteht meistens aus orangerotem Kumkum oder gelber Sandelholzpaste oder einer Mischung. Zinnoberrotes Sindoor wird auch zusammen mit gelbem Kumkum als gutes Zeichen in Tempeln vergeben, die Lakshmi und Vishnu gewidmet sind.

Tripundra Tilak, Tripundraka Tilak
Wörtlich: Tri = Drei, Pundra = religiöses Zeichen. Das Tripundraka sind die drei horizontalen Streifen auf der Stirn des Hochgottes Shiva. Seine Anhänger, die Saiviten, die ihre Gefolgschaft gerne nach außen demonstrieren möchten, tragen auch die drei Streifen auf der Stirn oder auch zusätzlich auf Oberarmen und Brust etc. Das Zeichen kann weiß oder orangefarben sein, je nachdem, ob es aus Asche oder Sandelholzpaste hergestellt wurde. Saivaiten nehmen gerne Asche als Material für die Streifen, um die zerstörerischen Eigenschaft Shivas zu symbolisieren.

Warum drei Streifen? Die indische Symbolwelt ist so reich an Dreiheiten, daß die Auswahl schwerfällt, und bei dem einen Träger wird diese Bedeutung und bei einem anderen jene Bedeutung wichtiger sein: Die Tilaks repräsentieren beispielsweise die drei ersten Elemente der Silbe OM oder die drei Aktivitäten des Göttlichen: Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung, oder die drei Gunas (Zustände des Seins oder Eigenschaften).

Insgesamt können die Tilaks auf zwölf Teile des Körpers aufgetragen werden, auf die Brust, den Nabel, die Ohren, den Kopf, über und unter dem Ellbogen und auf den Rücken. Das Auftragen erfolgt natürlich unter Rezitation spezifischer Mantras. Den Tilaks, insbesondere dem auf der Stirn, wird nachgesagt, daß sie das Gehirn während der Meditation kühlen.

Urdhvapundra Tilak
Wörtlich: urdhva = aufrecht, senkrecht getragen, Pundra = religiöses Zeichen. Das Urdhvapundra Tilak ist ein Zeichen auf der Stirn aus zwei vertikalen Linien in einer "U"-Form, wie eine lange Zunge, deren Zentrum mit einer anderen Farbe ausgefüllt sein kann oder eine dritte, oft andersfarbige Linie enthält. Es kennzeichnet Anhänger Vishnus, die Vaishnaviten. Die zwei weißen Linien stehen für die Fußabdrücke Vishnus, die auf einem Lotus ausruhen, das rote Zentrum repräsentiert Lakshmi. Die Farbe kann variieren, weiß, orange, rot, je nachdem, ob das Zeichen aus Asche oder Sandelholzpaste gefertigt wurde, welches seine farblichen Akzente je nach Sekte des Vishnuiten noch durch Beimengung von Curcuma oder Zinnoberrot erhält. Wie auch bei de Shiva-Tilak können nicht nur die Stirn, sondern auch die zwölf Teile des Körpers insgesamt so gezeichnet werden. Detailliertere Informationen finden sich in der Vasudeva Upanishad.

Manchmal werden beide Zeichen zu einem Mischsymbol verschmolzen. Dann steht das Zeichen für Hari-Hara, die untrennbare Einheit aus Vishnu und Shiva.

Shaktas
Shaktas (Anhänger der Devi oder des Shaktismus) benutzen gerne Kumkum, eine orangerote Paste aus pulverisiertem Kurkuma-Wurzelstock. Bei Shaktas hat das Stirnzeichen die Form einer einzelnen vertikalen Linie oder eines Punktes, manchmal leicht in die Länge gezogen. Dieses Zeichen ruft die Kraft der Adi Parashakti, der universellen Mutter an, von der alle Lebensenergie ausgeht.

Bindi, Bindu
Bindi (Hindi) wird das Tilak genannt, das von Frauen getragen wird. Traditionell wird es von verheirateten Frauen in Rot getragen und ist Symbol ihres Ehestatus. Hier ist eine Parallele zum nordindischen Brauch zu sehen, nach dem sich verheiratete Frauen zinnoberrotes Pulver in den Haaransatz über der Stirn als Zeichen ihres Ehestatus reiben. Das Zinnoberrot steht für Stärke und Liebe. Vor der Heirat tragen Frauen manchmal ein Bindi in Schwarz, um böse Einflüsse zu verscheuchen. Heute ist das Bindi ein Modeartikel und wird in den verschiedensten Farben und Materialien getragen, auch von unverheirateten Frauen. Es gibt eine Modeschmuckbranche in Indien, die selbstklebende Bindi in den verschiedensten Materialien, Formen und Farben anbietet. Mit einem „Kastenfleck“ hat das nichts zu tun, wie hierzulande manchmal noch geglaubt wird. Diese Fehl-Assoziation kommt vielleicht von der indischen Bezeichnung „Kasturi“, die aber ebenso wie „Sindoor“ oder „Kumkum“ synonym für zinnoberrote „Bindi“ verwendet wird. In Telugu heißt das Bindi „Bottu“. Das Hindi-Wort „Bindi“ stammt vom Sanskrit-Wort „Bindu“ und bedeutet „Tropfen“.

In den alten Schriften finden sich sehr frühe Hinweise auf ein Bindi: So soll in der Rigveda die Göttin der Morgenröte, Usha, einen leuchtend roten Punkt auf der Stirn getragen haben, welcher die aufgehende Sonne repräsentiert. In der Mahabharata wischt sich Draupadi ihr Kumkum in Hastinapur als Zeichen der Verzweiflung von der Stirn. Das spiegelt sich auch in heutigen Bräuchen wieder: Eine Frau entfernt das Bindi von ihrer Stirn, wenn sie ein Unglück ereilt oder Witwe wird oder wenn ein Todesfall in der Familie eintritt.

Vibhuti
Wörtlich: Vibhuti = Reichtum (Sanskrit) Vibhuti ist das Auftragen heiliger Asche. Asche symbolisiert das Unzerstörbare im Menschen, denn sogar nach dem Verbrennen des eigenen Körpers nach dessen Tod bleibt ein bißchen Asche übrig. Das Gesicht oder sogar den ganzen Körper (wie es einige Sadhus tun) mit Asche einzureiben, erinnert einen an den Tod und an die unbeständige Natur aller weltlichen Dinge, aller Akzidentien in dieser Welt außer dem Göttlichen. Das Auftragen von Asche symbolisiert auch die Durchbrechung des Samsara-Prinzips und die Zerstörung von Karma (die Summe aller guten und schlechten Handlungen), daraus leitet sich auch der Ausdruck ab, denn „Reichtum“ bedeutet hier "spiritueller Reichtum". Asche wird auch als ein wertvolles Desinfektionsmittel und als Reinigungsmittel angesehen.

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