Bernhard
Peter
Eine
verhaltene Liebeserklärung an Indien
Mikrokosmos
Indien
Indien ist kein Land. Indien
ist eine Welt. Auch eine Welt für sich, sicherlich. Eine Welt
für sich, die ganz weit weg von der Welt zu sein scheint, aus
der wir Touristen kommen, aber auch eine so reichhaltige Welt,
daß vor lauter Entdeckerfreude und vor lauter begierigem
Eintauchen in den Ozean der prickelnden Fremdartigkeit die
Bindungen an unsere eigene Welt zeitweise locker werden. In jedem
Fall ist Indien eine Welt, die jede denkbare Form des Lebens, der
Lebensweise, der Existenz enthält. Und das in weitaus größerem
Maße, als ich je in einem anderen Land erlebt habe. Jeder Sucher
wird hier fündig. Eine Welt, die eine Vielzahl wichtiger
Religionen und Kulturen vereint, sich berühren und beeinflussen
läßt, aber nicht zu einem globalisierten Einheitsbrei
verschmilzt, sondern jedem diese Vielfalt prägenden Einfluß
seine akzentuierte Identität läßt. Vielleicht ist Indien auch
mehr als eine Welt, nämlich ein Kosmos, denn je tiefer man
eindringt in das Land, das Leben, die Kultur, desto größere
Weiten öffnen sich. Ein Kosmos, dessen Tiefgang beliebig ist,
der es jedem Besucher offen läßt, bis zu welcher Tiefe er
eindringen möchte, der jedem Suchenden viele Antworten gibt und
noch viel mehr Fragen bereithält.
Indien:
Direkt und unmittelbar
Ein Land, dessen Leben an
Intensität seinesgleichen sucht. Jeden Tag werden die Sinne aufs
Neue herausgefordert, Auge, Nase, Ohren, Geschmack, Instinkt,
alle Sinne werden sekündlich bis zur Grenze der
Aufnahmefähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft in Anspruch
genommen. Die Erlebnisdichte ist unglaublich. Selbst wenn man gar
kein Besichtigungsprogramm macht, hat man in einer Stunde mehr
ungewohnte Sinneseindrücke als zu Hause in einem Monat. Die
Eindrücke sind überwältigend. Indien ist intensiv. Vor allem
sind die Eindrücke scharf, klar, unmittelbar. Indien ist kein
Land, das alles Frappierende, alles Schockierende, alles
Wunderbare mit einem ewig höflichen Lächeln verbrämt. Indien
ist kein Land des unscharfen Vermittelns zwischen den Extremen
und erst recht nicht ein Land des weichgespülten globalen
Einheitstrends. Indien ist direkt. Und genau aus dem Grund ist
Indien wie kein anderes Land in der Lage, uns aufzurütteln und
uns zum Nachdenken zu zwingen, und uns zu ändern. Und genau
deswegen reisen wir ja schließlich!
Das
Leben in seiner ganzen Breite mit allen Kontrasten
Indien ist ein Land der
scharfen Kontraste und lehrt das Leben mit ihnen. Indien ist ein
Land, das Menschen glücklich macht, die die Herausforderung des
ewigen Sich-selber-Neudefinierens in einem überaus
abwechslungsreichen und hochkommunikativen Umfeld suchen, und
Leute verzweifeln läßt, die unseren musealen Umgang mit
Geschichte und unseren à-la-carte-Umgang mit Kultur
suchen. Indien ist kein Museum, sondern eine stets hochlebendige
Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Tradition und
miteinander. Auch wenn in den Städten viel Verwestlichung
herrscht, Hosen die windelartigen Dhotis ersetzt haben und junge
Mädchen auch schon mal in Jeans anzutreffen sind, moderne
Tata-Autos den guten alten Ambassador verdrängen, Handys genauso
zum Statussymbol geworden sind wie bei uns, das alles ändert
nichts am Prinzipiellen der Lebendigkeit der Tradition, wie einem
spätestens beim Tempelbesuch klar wird, wo dieselben
verwestlichten Inder hingebungsvoll Ratten verehren, oder wenn
der Taxifahrer eben noch mal schnell anhält, um ein Bananenblatt
voller Rosenblütenblätter zu erstehen, um es über dem auf dem
Armaturenbrett festgeklebten goldenen Ganesha aus Plastik
auszuschütten, oder wenn das nagelneue Tata-Auto mit einem
riesigen roten Hakenkreuz (Swastika) auf der Motorhaube verziert
wird, oder wenn der leicht in die Breite gehende Herr mit Handy
am Ohr im Schneidersitz auf dem Nacken eines Elefanten sitzt, den
er gerade reitet.
Anderes
Ordnungsparadigma und andere Freiräume
Indien hat eine hochkomplexe
Struktur. Sowohl organisatorisch mit seiner komplizierten
Verwaltung und Bürokratie, als auch städtebaulich und
architektonisch mit dem verwirrenden Gefüge der Gassen der
Altstadt (Jaipur mal ausgenommen) und der unendlichen
unkontrollierten Ausdehnung der Vorstädte, vor allem aber
gesellschaftlich mit den Privilegien und Restriktionen der immer
noch von Kasten geprägten Gesellschaftsstruktur. Ich glaube,
das, was viele Leute an Indien verzweifeln läßt, ist das
Nichterkennen der Ordnungsprinzipien des Mikrokosmos Indien.
Organisatorisch und gesellschaftlich hat Indien eine
Komplexität, die ein Individualist aus europäischen Ländern
nicht nachvollziehen kann. Umgekehrt versagen alle europäischen
Paradigmen einer durchschaubaren gebauten Struktur. Es eröffnen
sich neue Grenzen und neue Freiräume, ungewohnte Hürden türmen
sich auf und wiederum andere Schwierigkeiten ebnen sich wie von
selbst. Und genau dieser Paradigmenwechsel, den der Reisende
vollziehen muß, verwirrt, stellt in Frage, rüttelt auf, ruft
Veränderung im Reisenden hervor. Am faszinierendsten ist es,
dieses Leben zu erfahren, immer am Rande des Kollapses, der dann
doch nicht eintritt, und die ungeheuren Kräfte zu erahnen, die
das vielschichtige Ganze doch noch zusammenhalten und das
Eintreten des ewig nahen Kollapses verhindern.
Indien
ist distanzlos
Indien ist ein unmittelbares
Land. Ein intensives. Ein distanzloses (und hat zugleich riesige
räumliche Distanzen). Indien verweigert sich dem, der es
oberflächlich erleben will, der am liebsten nur die vorher in
Bildbänden gesehenen Bilder bestätigt sehen will. Nein, es gibt
diese Prachtexemplare der Architektur nicht ohne den Gestank der
ewig zwischen Dahinschwelen und Verwesung befindlichen
Müllhaufen, nicht ohne das Getöse der ständig hupenden und die
Luft verpestenden veralteten Motorfahrzeuge, nein, es gibt das
Taj Mahal auch nicht ohne die Schlepper und Nepper, die einen
rechts und links am Arm zerren, und es gibt die malerischen
Wüstendörfer nicht ohne die starrenden und glotzenden Blicke.
Das Indien der Straße ist kein Land höflich geglätteten
zwischenmenschlichen Umgangs. Indien will berühren, ergreifen,
nicht nur erstaunen, sondern in Besitz nehmen. Indien ist ein
Land, das unter die Haut geht. Ein Ozean, in den man eintaucht.
Indien
ist hochkommunikativ
In Indien wird zu jeder Zeit
und in jeder Situation das Verhältnis zweier Menschen oder
zweier Verkehrsteilnehmer, die sich begegnen, auf
hochkommunikative Weise ständig aufs Neue geregelt. Kein Gang
durch eine beliebige Straße, ohne mindestens zehnmal nach seinem
Namen oder seinem Heimatland gefragt werden, so direkt, häufig
sogar ohne jeden Gruß, daß es schon für europäische Ohren
verletzend klingt, aber das ist die notwendige Regelung der
Beziehung von Menschen untereinander, die auf engstem Raum
zusammenleben und dem Fremden seinen Raum innerhalb der
Gesellschaft zuordnen wollen und müssen. Am besten sollte man
10% der veranschlagten Zeit für einen beliebigen Aufenthalt in
öffentlichem Raum allein für die Beantwortung der Routinefragen
einkalkulieren, mal ganz abgesehen von Neppern, Schleppern und
Straßenhändlern.
In anderem Sinne ist Indien ebenso hochkommunikativ: Hat das Land
vielleicht die industrielle Revolution verschlafen, die
kommunikative Revolution gewiß nicht. Rajiv Gandhi und seine
Computerboys haben das Land in die Cyberwelt gestoßen. Nicht
nur, daß Indiens EDV-Spezialisten berühmt und günstig sind,
sondern die moderne Kommunikationstechnologie ist in den Städten
zur Selbstverständlichkeit geworden, auch in den kleinsten
Städtchen sprießen Internetcafes aus dem Boden, historische
Havelis mit bemalten Wänden, winzige Räume mit vielen PCs an
einem einzigen Modem aber es geht und Indiens Jugend nutzt
mit Begeisterung die Möglichkeiten des Internetzeitalters.
Genauso erscheint gemessen am Pro-Kopf-Einkommen die Handy-Dichte
erstaunlich hoch! Noch mehr als bei uns ist das Handy
Statussymbol der Jugend und der Geschäftsleute und ihr
unverzichtbares Utensil.
Hupo
ergo sum
Ganz zu schweigen von der
Kommunikationsintensität zwischen Autofahrern. Kann man in
Westeuropa seine Existenzberechtigung auf der Straße vielleicht
noch durch ein cogito ergo sum rechtfertigen, müßte
es auf Indiens Straßen heißen hupo ergo sum! Vor
allem wird der ganze Kommunikationsreichtum des Vehikels von Hupe
über Warnblinklicht bis zu Lichthupe eingesetzt, die in ihrer
Kombination eine für den europäischen Gast undurchschaubare
Vielfalt von Signalen ermöglichen, vom Grad der Wichtigkeit der
Reise bis zum Grad der Entschlossenheit des Fahrers,
durchzufahren. Ach ja, für Richtungsänderungen werden die
Signale gelegentlich auch benutzt.
Lernen,
sich wieder wahrzunehmen
Und irgendwann, wenn abends
die Tür der Unterkunft hinter einem zufällt, läßt man den
Reichtum an Begegnungen des Tages noch einmal an sich
vorüberziehen. Und man stellt erstaunt fest, wie viele Gesichter
einem noch präsent sind, wie viele Menschen es geschafft haben,
die unsichtbare Hülle um einen, die man als sogenannte
Privatsphäre im öffentlichen Raum mit sich herumträgt, zu
durchbrechen. Ganz im Gegensatz zu einem Stadtbummel in meiner
Heimatstadt, wo Hunderte von Menschen berührungslos an mir
vorüberziehen, von denen ich mir kein einziges Gesicht merke,
weil sie den Schutzschild meiner Privatheit nicht durchbrechen.
Hier haben es die Menschen noch nicht verlernt, sich gegenseitig
wahrzunehmen und sich kommunikativ aufeinander einzustellen.
Das
Land der Träume und der Alpträume zugleich
Indien ist das Land, in dem
die kühnsten Vorstellungen Wirklichkeit sind. Märchenstädte,
die die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht mit einer Kulisse
versehen. Stinkende schwelende Müllhaufen, aus denen eine Kuh
die letzten Pappreste futtert. Geisterstädte aus der Moghulzeit,
die in perfekter Schönheit von der Pracht der damaligen
Herrschaft künden. Familien, die ihre Wohnstätte auf dem
Mittelstreifen einer mehrspurigen Straße aufgeschlagen haben.
Karawanenstädte, die wie ein Vineta der Wüste alles Dagewesene
an Feinheit und Raffinesse der Architektur in den Schatten
stellen. Lebensfeindliche Wüste, der mit Müh und Not ein paar
Halme für die Ziegen abgerungen werden. Steinmetzarbeiten so
fein wie Spitzen. Historische Architektur vom Rang eines
Weltkulturerbes, die im Smog aus Fabriken verdämmert. Die
unendliche Gastfreundschaft der Menschen in den Dörfern. Die
anhänglichsten Nepper und Schlepper des Kontinentes. Luxuriöses
Leben hinter doppelten Flügel-Türen aus massivem Elfenbein.
Dumpf vor sich hin vegetierende Armut in zerfallenden Häusern
inmitten einer großflächigen Müllhalde. Weiß schimmernde
Tempel am heiligen See im Frieden des Morgennebels. Unendliche
Hupkonzerte auf den Straßen bis spät in die Nacht. Der Duft von
Gewürzen in den Straßen und Märkten. Die ranzige Duftnote des
Saddhus, neben dem man Stunden im Bus verbringt. Leuchtende
Farben der Rajputentrachten vor monochromem Wüstenhintergrund.
Eine aus Tausenden Dieselstinkern verpestete Luft, die einem das
Atmen in den Großstädten schwer macht. Lebensfreude pur in den
Gärten mit ihren Wasserspielen und geometrischen Blumenrabatten.
Stolz, Krieg, Ehre, Glaube und Extravaganz: Das sind die
Faktoren, die das geschaffen haben, was wir uns heute so gerne in
Rajasthan anschauen. Gleichgültigkeit, Unwissenheit, Armut und
Entwurzelung schaffen das, was in Reiseführern eher nicht so
gerne abgebildet wird. Jeder Augenblick ist ein neuer Eindruck.
Jeder Schritt ist eine neue Szene. Jede Stadt hat ihren
individuellen Charakter, ihre Schönheiten, ihre Extreme, ihre
Widersprüche. Ihre wahren Träume und Alpträume.
Und all das ist kein Widerspruch, sondern das pulsierende Leben selbst, in all seinen Schattierungen. Ein ständiges Werden und Entwerden, dessen Ruf man sich bald nicht länger entziehen kann. Und in dem Maße, in dem man das Leben selbst sucht, in all seinen Ausprägungen, in dem Maße, in dem man das Leben möglichst tief erleben will und seine eigenen Schranken überwinden will, wird man Indien über alle Hindernisse hinweg seine Liebe erklären.
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Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2005
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