Bernhard Peter
Datong: Die "historische" Stadtmauer
AD 2009-2012

Datong, eine der historisch wichtigen Städte Nordchinas, bevor Beijing ihm den Rang ablief, einst eine Militärbasis der Ming gegen die unfern gelegene nördliche Reichsgrenze, besitzt eine Stadtmauer von quadratischer Form rings um seine ca. drei Quadratkilometer große Altstadt, mit Wachtürmen, Ecktürmen, Kontrolltürmen und Schießtürmen. Vier großartige Toranlagen sind jeweils an den Mittelpunkten jeder Flanke des Rechtecks zu finden, durch die sich die Hauptverkehrsadern der Innenstadt ziehen. Eine gewaltige Zwingeranlage schützt das Südtor. Der Wall selbst ist außen und innen mit Steinen verkleidet, unten breiter als oben, mit geneigten Wänden. Der Weg auf der Runde ist so breit, daß er bequem mit Wagen befahren werden könnte. Über jeder vorspringenden Bastion erhebt sich ein hölzerner Pavillon mit geschweiften Dächern.

Ein ming-zeitliches "Rothenburg"? Weit gefehlt! Die komplette Anlage ist funkelnagelneu, 2009-2012 errichtet, nicht "Ming-Dynastie", sondern "Zement-Interregnum". Wohl hatte die Stadt früher mal eine Stadtmauer, an der während der Nördlichen Wei-Dynastie bis zur Ming- und Qing-Dynastie gebaut wurde und die in ihrer heutigen Ausdehnung auf das Jahr 1372 zurückgeht, unter den Toba-Wei sogar noch eine weitere, mit 16 km Länge viel größere, und Reste alter Stadtbefestigungen kann man in Form eines einfachen Lehmwalles zwischen der heutigen Altstadt und dem Bahnhof sehen, einfach und unspektakulär. Nach den Zerstörungen der Moderne, von der die echte, historische Stadtmauer nicht verschont wurde, sehnt man sich aber nach einer "Altstadt". Man blickt sehnsüchtig etwa nach Pingyao und seinen florierenden Tourismus und hätte gerne auch so etwas, das Touristen und den entsprechenden Umsatz in die Innenstadt lockt. Also wurde und wird eine neue "Altstadt" aus dem Boden gestampft, nachdem man 2008 den Plan "Umgestaltung der alten Stadt" strich und den Plan "Schutz der alten Stadt" ins Leben rief.

In China versteht man jedoch Denkmalpflege etwas anders als bei uns, nicht Erhalt der überkommenen Materie steht an oberster Stelle, sondern Pflege der überkommenen Idee. Der Stil der Mauer ist Ming, doch der Zement ist kaum trocken, und außerhalb der Stadtmauer, die eine Qualität hat, von denen die damaligen Herrscher nur träumen konnten, werden gerade die Wallanlagen und Wassergräben angelegt, wofür ältere Hochhäuser abgerissen werden, damit eine Armada von Baggern die "historischen" Gräben ausheben kann. Im Osten ist die Grabenanlage bereits fertig und wassergefüllt, der Park ist angelegt, im Süden wurde 2012 noch kräftig gebaggert. Der westliche und der nördliche Abschnitt sind auch noch in Arbeit. Wie wenig von der Mauer noch alt ist, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die ursprünglich 12 m hohe Mauer, soweit noch vorhanden, nur noch maximal bis zur Hälfte ihrer Höhe erhalten war und zudem ihrer Ziegel verlustig gegangen war, die man zwischenzeitlich prima anderweitig hatte gebrauchen können. Eigentlich war nur noch ein halbhoher Lehmwall vorhanden gewesen, als man die Renovierung, also, ehem, den Neubau anfing. Unter "Sanierung" versteht man bei uns jedenfalls etwas Anderes. Dennoch scheut man sich nicht, den Neubau als "ancient city wall" zu bezeichnen, so als wäre nichts gewesen. Völlig neue Bauwerke werden als "alt" definiert.

Mit gewaltigen Anstrengungen und Milliardeninvestitionen bemüht man sich, das Image einer kohlestaubbelasteten Industriestadt abzustreifen, die steingewordene Tristesse des maoistischen Prinzips "erst produzieren, dann leben" geworden war, und die durch eine Bemerkung eines Unesco-Experten den Ruf der "häßlichsten Stadt der Erde" erworben hatte, und eine Menge fürs Auge zu tun, nicht nur mit dieser Stadtmauer und den Grünanlagen ringsum, sondern auch durch Errichtung komplett neuer Einkaufszentren in historisierendem Stil. Apropos Grünanlagen - ja, gemessen am früheren Aussehen von Datong ein unglaublicher positiver Effekt! Zugleich ist das das Ergebnis einer absolut kompromißlosen Umsetzung der Vorgabe, alle Bauwerke, die näher als 200 m an der Mauer standen, einfach abzureißen.

Deindustrialisierung ist das Zauberwort, mit dem die Stadt lebenswerter gemacht werden soll. Die Industrie wird aus der Kernstadt geworfen - mitsamt den alten Bewohnern. Wo früher Trostlosigkeit und Industriedreck war, soll ein mingzeitähnliches "Disneyland" entstehen, um Touristen anzulocken und mehr Lebensqualität herbeizuzaubern. Die Bemerkung, Datong sei die "häßlichste Stadt der Erde", nahm Bürgermeister Geng Yanbo, seit 2008 im Amt, im Jahre 2009 zum Anlaß, eine gewaltige Umgestaltung ins Werk zu setzen. Datong will nicht mehr die "häßlichste Stadt der Erde" sein, sondern ein Ziel für geschichtsbewußte Reisende. Dafür reißt man auch schon einmal einen Großteil seiner Altstadt ab, um sie in einer Phantasieversion ihrer selbst wieder aufzubauen.

Der Blick über den Mauerrand offenbart jedoch schon wieder die trostlose Hochhaus-Realität der urbanen Massensiedlungen rings um die Kernstadt, wo in den Neubauten diejenigen untergekommen, deren Huotongs der neuen "Altstadt" gewichen sind und noch weichen werden, und wo früher Familien lebten, entstehen jetzt Luxuswohnungen, Restaurants und Shopping-Malls. 85 % der alten Einwohner wurden nach "draußen" umgesiedelt. Die meisten Bewohner wurden aus der Stadt geworfen, um ungehindert bauen zu können, um dann die Stadt zu "revitalisieren". Zugegeben, durch den Niedergang der Industrie glich die Altstadt immer mehr einem klassischen Slum. Nun kommt Schickimicki. Das Ergebnis innerhalb der Altstadt ist 2012 eine bizarre Mischung aus wenigen bedeutenden echten alten Bauten, abbruchreifen, slum-ähnlichen Huotongs, unzähligen Schutthaufen und Baustellen und pseudohistorischen Phantasieplazas von gigantischem Ausmaß. Der Großteil der Fläche innerhalb des Mauerquadrats ist Baustelle, abbruchreifes Slum oder nagelneu. Innerhalb dieser bizarren Mischung aus alt, kaputt oder pseudo muß man die wenigen echten historischen Kleinode suchen.

Was jedoch vor allem an dieser Mauer beeindruckt, und das gewiß nicht positiv, ist der gigantische Umfang dieses "Sanierungs"konzeptes, die kompromißlose Härte, mit der die Sanierung der Altstadt durchgeprügelt wird; und die Größe des Tabula-rasa-Ansatzes, der Geschichte willkürlich neu definiert, dem das echte Alte zuerst geopfert wird, ehe man es pseudoalt (fang-gu) und blutleer wiedererstehen läßt, läßt den europäische Denkmalpflege gewohnten Touristen erschaudern. Hier ist "Denkmalpflege" in der Stadtentwicklung jedenfalls untrennbar mit wirtschaftlichen Interessen verbunden, nicht mit kulturellen Werten.

Neue Stadtmauer von Datong, weitläufiger Zwinger des Südtores.

Neue Stadtmauer von Datong, weitläufiger Zwinger des Südtores, in dem eine Freilichtbühne Platz fand. Vor dem Südtor liegt erst ein trapezförmiger Zwinger, der von einem weiteren Trapez eingefaßt wird. In der mittleren dieser drei Mauern liegt die Durchfahrt östlich, in der äußeren (oben in der Mitte des Bildes) wieder mittig. Vor dieser Anlage befiundet sich ein weitläufiger, in der Mitte beidseitig eingezogener Rechteckhof, der im Süden (im oberen Bild im Rücken des Betrachters) das äußerste Tor enthält. Der besagte Rechteckhof wird beiderseits von je einem weiteren Zwinger von unregelmäßigem Grundriß eingefaßt. Insgesamt 14 Wallpavillons stehen auf der Anlage.

Neue Stadtmauer von Datong, auf der Wallkrone entlang des südlichen Zwingers.

Neue Stadtmauer von Datong, östliche Zwingerbefestigung am Südtor der Stadt.

Neue Stadtmauer von Datong, Verlauf der Mauer von der Südostecke zum Osttor mit Wachpavillons. Zwischen Osttor und nordöstlichem Eckpavillon befinden sich 6 Wachpavillons, weitere 6 bis zur Südostecke. Die anderen Mauerabschnitte haben die gleiche Anzahl.

Neue Stadtmauer von Datong, Verlauf im Südosten der Stadt mit Blick nach Süden.

Neue Stadtmauer von Datong, Eckpavillon an der Südostecke, im Hintergrund rege Bautätigkeit.

Neue Stadtmauer von Datong, Verlauf der östlichen Mauer zur Nordostecke mit Wachpavillons.

Neue Stadtmauer von Datong, Verlauf der Mauer vom Osttor zur Nordostecke mit Wachpavillons.

Neue Stadtmauer von Datong, Kunst im Zwinger des Osttores. Im Hintergrung wie überall in Datong: Baustellen und Kräne.

Neue Stadtmauer von Datong, Osttor mit Toröffnung zum Zwinger, Stadtseite, mit plastischen Schriftzeichen. Das Osttor hat zwei ineinandergeschachtelte Zwinger. Vor diesem Tor liegt ein Rechteckt, dessen Südostecke abgeschrägt ist und den Durchlaß enthält. Das wird wieder von einem größeren Rechteck umgeben, wobei der Durchlaß wieder mittig sitzt. Der Hindurchfahrende muß also einen Haken schlagen, und ein direkter Weg ist nicht möglich.

Neue Stadtmauer von Datong, Pavillon des Osttores, Südseite.

Stadtmauer von Datong, Abschnitt des Südtores mit vorgelagertem Zwinger; hier wird gerade der historische Wallgraben ausgehoben, der später mit Wasser gefüllt werden soll, wie bereits an der Ostseite verwirklicht. Der gesamte Baubestand innerhalb einer 200 m - Zone zur Mauer wurde und wird abgerissen.

Stadtmauer von Datong, südwestlicher Abschnitt, hier wird gerade der "historische" Wassergraben ausgehoben. Im Bild die Ecke, an der der Graben vom Südzwinger kommend wieder auf das eigentliche Mauerrechteck stößt. Bereits vorhandene ältere Hochhausbebauung wird zur Anlage des "historischen" Grabens abgerissen.

Neue Stadtmauer von Datong, Verlauf der östlichen Mauer zur Nordostecke mit Wachpavillons.

Literatur, Links und Quellen:
Anke Kausch, China, DuMont Kunstreiseführer, 5. Auflage 2008, ISBN 978-3-7701-4313-9, S. 219 ff.
Oliver Fülling, China. Richtig reisen, DuMont Reiseverlag, Ostfildern, Auflage: 2. Auflage 2008, ISBN-10: 3770176235, ISBN-13: 978-3770176236
Copy & Paste im Städtebau: http://www.bauwelt.de/sixcms/media.php/829/bw_2012_7_0012-0021.pdf
Das neue Datong:
http://www.chinapictorial.com.cn/gr/se/txt/2010-12/01/content_316179.htm

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