Bernhard Peter
Stoffe aus dem reinsten und exotischsten Material der Welt-
Lotusweberei am Inle-See

Baumwolle, Hanf, Leinen, Lotus. Lotus? Nicht gerade eine klassische Pflanze zur Gewinnung von Textilfasern, doch am Inle-See werden Lotuspflanzen genutzt, Stoffe aus den kostbarsten Fasern der Welt hergestellt, Lotusstoffe! Lotus überrascht immer wieder. Vor allem durch seine makellose Schönheit der Blüte, die sich über den schlammigsten Gewässern erhebt, ohne daß seiner Oberfläche der Dreck etwas anhaben könnte, so daß der Lotus zum Symbol der Reinheit geworden ist und selbst Götter auf ihm thronen. Und hier in den Pfahlbaudörfern am Inlesee werden aus diesem Symbol der Reinheit Stoffe gewebt. Der Lotus wird während des Monsuns geerntet, weil ein höherer Wasserstand längere Stengel und bessere Fasern garantiert. 3-5 Lotusstengel, die nicht älter als drei Tage nach dem Pflücken sein dürfen, werden nebeneinander gelegt und mit dem Messer ca. 6-8 cm vom Ende entfernt quer angeritzt. Die Stengel werden umgedreht und auf der anderen Seite wieder angeritzt. Dann werden die Stengel gemeinsam durchgebrochen – zarte gespinstartige Fäden werden beim Auseinanderziehen sichtbar. Sofort werden die Stengel gegeneinander verdreht, so daß sich in der Mitte ein Faden bildet, währenddessen werden die Stengelteile weiter auseinandergezogen. Wenn die spinnwebzarten Fasern alle aus den kurzen Stücken herausgezogen sind, werden die Fasern auf das Ende des schon bestehenden Fadens auf einer feuchten Steinplatte gelegt und mit den Fingern ein wenig gerollt, dann werden die langen Stengelenden komplett abgezogen. Feine Fasern bleiben auf der Steinplatte aufgefächert zurück und warten auf Fortführung des Wunderfadens. Der fertige Faden wird in einer Schüssel neben der Steinplatte gesammelt. Die gedehnten Fasern schnurren wieder etwas zusammen, der Faden wird dicker als die feinen Fasern es ahnen lassen, fast ähnelt er einer dünnen Leinenschnur. Erst beim näheren Hinsehen, insbesondere beim Betrachten der Enden, fällt die Feinheit des Materials im Detail auf. Ein spezieller Webstuhl ist ganz für die Lotusweberei reserviert. Das fertige Gewebe, naturbelassen oder uni eingefärbt, ähnelt in Beschaffenheit, Griff, und kühlendem Tragegefühl am ehesten einem Stück Leinen, ein klassisches Understatement, bedenkt man, daß für einen kleinen Schal 6000 Lotusstengel nötig sind und alle paar Zentimeter von Hand erneut angesetzter Faden sind, weil die Fasern nicht kontinuierlich gesponnen werden können. Und gar für eine komplette Mönchsrobe sind 120 000 lange Lotusstengel nötig! „Erfunden“ wurde die Lotusweberei vor ca. 90 Jahren im Dorf Kyain Khan. Eine Frau wollte dem Abt des örtlichen Klosters als Geschenk eine Robe aus dem einzigartigsten und reinsten Material schenken, welches zu haben war. Beim Pflücken von Lotusblüten als Schmuck der Buddhastatuen im Kloster bemerkte sie die feinen Fasern, die sich beim Abbrechen der Stengel offenbarten. Da keimte die Idee: Das war das gesuchte Material, Fäden aus der Pflanze, die zum Symbol der Reinheit schlechthin geworden war, Fäden, die so exotisch sind, daß diese Technik weltweit einzigartig ist! Während die Weberei eine bedeutende Industrie im ganzen Land ist, war die anfängliche Schwierigkeit das Verspinnen der Fäden, für das eine ganz neue Technik entwickelt werden mußte. Nachdem der Abt das Geschenk erhalten hatte, würdigte er diese Leistung durch Änderung ihres Namens von Daw Sar U („Frau Spatzen-Ei“) in Daw Kyar U – „Frau Lotus-Ei“. Diese Tradition der Lotusweberei wird auch heute noch am Inle-See gepflegt, z. B. im Dorf Inpawkhon kann man zusehen.

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© Text, Graphik und Photos: Bernhard Peter 2004 und 2005
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